Mein Kind wird den richtigen Weg für sich finden
Danni-Eltern, Teil 7 der Reihe „Mein Kind ist kein Terrorist“
Ich habe lange überlegt, ob ich mich der Reihe von Texten der Dannieltern anschließen soll. Denn mein Kind war nicht nur sehr früh im Danni dabei, hat Baumhäuser gebaut, in Traversen geklettert und sich mehrfach von der Polizei räumen lassen. Mein volljähriges Kind hing auch an einer Autobahnbrücke.
Das Kind einer Freundin ist ebenfalls Klima- und Verkehrswende-Aktivisti. Es kocht regelmäßig bei der Küfa – der Küche für alle. Warum muss ausgerechnet mein Kind die extremste aller Protestformen rund um den Kampf um den Erhalt des Dannenröder Waldes wählen? Das und vieles mehr habe ich mich als Mutter gefragt.
Vor einiger Zeit gab es einen Leserbrief, in dem ein Bürger fragte: Wer hat so viel Zeit? Was sind das für Leute, die wochenlang offenbar keiner Arbeit nachgehen, der Gesellschaft auf der Tasche liegen und der Staatsmacht trotzen, obwohl es Gerichtsentscheide pro Autobahnbau gibt?
Die Bilder wohl nicht katastrophal genug
Ich selbst war aus gesundheitlichen Gründen leider nie im Dannenröder Wald. Der letzte politische Waldspaziergang, bei dem ich dabei war, führte entlang des Bauzaunes der WAA in Wackersdorf. Ich war etwa so alt wie mein Kind heute. Unsere Generation hatte – Tschernobyl hat uns recht gegeben – riesige Angst vor den Risiken der Atomenergie. Aber ich habe nie zu den besonders aktiven Protestlerinnen gehört. Die WAA wurde nicht gebaut und das Thema "Atomkraft nein danke!" ebbte ab. Es musste sich erst die Katastrophe von Fukushima mit den drastischen Bildern aus Japan ereignen, damit in Deutschland unter der Regierung der CDU-Kanzlerin Merkel der Ausstieg aus der Atomenergie beschlossen wurde.
Die Bilder der Klimakatastrophe waren wohl nie katastrophal genug. Bereits seit 30 Jahren hören wir die Warnungen vor dem Klimawandel, und es ist kaum etwas passiert - weder von politischer Seite, noch haben wir Normalbürger unser Leben groß umgestellt. Die Wiedervereinigung kam und die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit wuchs weiter in Deutschland. Laut Statistischem Bundesamt und Umweltbundesamt sind die Müllmenge pro Kopf und der Energieverbrauch insgesamt gestiegen, die Pkw-Dichte in Deutschland in den vergangenen zehn Jahren gar um zwölf Prozent. Und während meine Generation noch mit Interrail in Europa unterwegs war, haben wir unsere Kinder in die weite Welt geschickt, zum Schüleraustausch auf andere Kontinente, zu Work and Travel nach Down Under.
Keinen Wald mehr für die Kinder unserer Kinder?
Kann es unendliches wirtschaftliches Wachstum geben? Was bedeutet das für Klima und Umwelt, die Lebensbedingungen hier und in anderen Ländern? Unsere Kinder haben aufgehorcht, allen voran ein schwedisches Mädchen, das von der Beschäftigung mit dem Thema erst depressiv wurde, dann in den Schulstreik ging. Es gibt wahrscheinlich viele Gründe, warum unsere Kinder ausgerechnet jetzt einen tiefgreifenden Wandel fordern: Die eigenen Erfahrungen in fremden Ländern und die Möglichkeit, sich im Internet zu informieren, vielleicht auch der schulische Druck in unserer Leistungsgesellschaft und die Flüchtlingskrise 2015, die die soziale Ungerechtigkeit auf unserer Erde noch einmal drastisch an den Tag legte. Auf jeden Fall haben die heißen Sommer mit Waldbränden in allen Teilen der Erde in den vergangenen Jahren schockiert. Unsere Kinder haben Angst, dass es für ihre Kinder keinen Wald mehr geben wird, auf jeden Fall keinen wie den Dannenröder Wald.
Wer hat so viel Zeit? Mein Kind hatte nach G8 und dem besten Abi der Familie klare Ziele: Erst ein Jahr nach Australien und dann ein Studium der Ingenieurswissenschaften mit Richtung umweltfreundliche Technologien. Wir Eltern waren über sich anbahnende gute Zukunftsperspektiven für unser Kind erfreut. Wir selbst hatten uns schwergetan, nach dem Studium beruflich Fuß zu fassen. Gewundert hatte ich mich darüber, wie mein Kind Arbeit in Australien finden wollte, hatte es doch während der Schulzeit noch nicht einmal einen Ferienjob gemacht. Es hat dort dann Wohnungen renoviert und auf dem Bau sowie in der Landwirtschaft gearbeitet. Auch nach der Rückkehr aus Australien hat es wieder auf dem Bau gearbeitet, in einem zehnwöchigen unbezahlten Berufspraktikum – das war in einem dieser Hitzesommer, die wir seit zehn Jahren immer häufiger erleben. Der Meister hat meinem Kind ein hervorragendes Zeugnis ausgestellt, er hätte es sofort als Lehrling eingestellt.
Eine gerechtere Gesellschaft ist das Ziel
Dann begann das Studium und mit diesem das studentische politische Engagement. Demos gegen studentische Wohnungsnot (ein WG-Zimmer war schwer zu finden!), gegen Nazis, für eine bessere Flüchtlingspolitik und für den Kohleausstieg. Mein Kind hat die großen "Fridays for Future"-Demos in unserer Stadt mit organisiert. Im Winter 2019 hat es uns das erste Mal vom Danni erzählt und im Sommer dann berichtet, dass es immer öfter dort ist. Es hat von dem gemeinschaftlichen rücksichtsvollen Zusammenleben dort geschwärmt und auf einem Plakat glücklich gezeigt, an welchen Baumhäusern es mitgebaut hat.
Es hat vom Skillsharing erzählt, dem hierarchiefreien Teilen von Fähigkeiten und Fertigkeiten, und dass unser Kind, welches früher Höhenangst hatte, nun klettern kann. Es hat uns immer vermittelt, dass es sich bei der Art des Zusammenlebens im Danni um eine Utopie auf Zeit handele und es klar sei, dass es nicht für immer so weiter gehen könne. Man störe die Natur im Wald ja – immerhin um sie vor endgültiger Zerstörung zu schützen. Und ein Leben ganz neben der „normalen Gesellschaft“ funktioniere trotz Containern, veganem Essen und Kleidertausch auch nicht, aber eine bessere, gerechtere Gesellschaft sei das Ziel: Systemchange not Climate Change!
Direkter Kontakt abgerissen
Unsere Ängste um die „bürgerliche“ Zukunft unseres Kindes wuchsen. Denn uns Eltern war klar, dass unser Kind sich immer weniger um das Studium gekümmert hat. Es gibt Aktivisti, die Ausbildung und Engagement unter einen Hut bekommen: Luisa Neubauer etwa, die im Sommer 2020 ihren Bachelor in Geografie gemacht hat. Der Bewegungsgärtner, ein junger Video-Dokumentarfilmer, der die Räumung in und rund um den Dannenröder Wald vom ersten Tag an begleitet hat, hat von Dannenrod aus sein Studium aufgenommen. Das war möglich, weil die Hochschulen wegen Corona auf digitale Lehre umgestellt haben und weil eine Unterstützer-Familie aus Dannenrod einen Coworking Space mit Internetzugang zur Verfügung gestellt hat. Aber mit Fortgang der Räumungsaktivitäten war uns Eltern klar, dass das Studium nicht mehr im Mittelpunkt des Interesses unseres Kindes stand, vielleicht auch nie mehr stehen würde.
Mein Kind hat sich dann, mit Beginn der ersten Polizeiaktivitäten, wochenlang nicht mehr gemeldet. Eine fürchterliche Zeit für mich als Mutter mit schlaflosen Nächten und Ängsten, mit täglichem Blick auf den Wetterbericht und großen Sorgen um die körperliche und seelische Gesundheit meines Kindes. Ich habe begonnen, die Besetzung und Räumung nicht nur in den klassischen Medien und Facebook, sondern auch auf Instagram, Twitter, Telegramm und den Webseiten der Waldbesetzer:innen zu verfolgen. Ich habe mehrere YouTube-Kanäle abonniert. Diese Informationen haben mich tatsächlich beruhigt. Ich habe mein Kind nicht nur hin und wieder trotz Vermummung erkannt, ich habe sehr viel darüber gelernt, wie die Aktivisti und auch Anwohner:innen sich gegenseitig unterstützen und schützen. Nicht nur mit Klettertraining und Küfa, auch mit Pressearbeit, GeSa-Support (Menschen holen Menschen nach deren Entlassung von der Gefangenen-Sammelstelle ab), mit der Arbeit des Legal-Teams, das Rechtsberatung gibt, und mit Awareness-Arbeit, bei der man sich seelischen Beistand holen kann.
Worte der Aktivisti relativiert
Aktivisti haben sich in der Besetzung gegenseitig abgelöst, viele haben immer wieder „Auszeiten“ genommen, sind „nach Hause“ gereist, um sich körperlich und seelisch zu pflegen und wichtige Termine in der „normalen Welt“ wahrzunehmen oder Geld zu verdienen. Wer nicht mehr vor Ort dabei sein wollte oder konnte, hat oftmals aus der Ferne mit GeSa-Support und Solidaritätsaktivitäten weiter unterstützt. Das sind keine verantwortungslosen Ökoterroristen, ganz im Gegenteil, das sind verantwortungsvolle, solidarische junge Menschen, die sich um unsere ökologische und soziale Zukunft sorgen und ein Umdenken in Politik und Gesellschaft erwirken wollen.
Erst nach der Autobahnbahn-Aktion hat sich mein Kind wieder gemeldet. Es hatte die Funkstille gewählt, um uns Eltern zu schonen. Noch heute weiß ich nicht, welche Arten von Polizeigewalt es aushalten musste. Aber ich kann es mir dank der Berichte im Internet leider vorstellen. Die klassische Presse hat hingegen zumeist nur die Pressemitteilungen der Polizei wiedergegeben. Wenn Aktivisti zu Wort kamen, so wurde das zumeist am Ende des Nachrichtenbeitrages wieder relativiert. Das macht mich wütend.
Konstruierte Vorwürfe
Die Reaktionen von Politik, Polizei und Staatsanwaltschaft gegenüber den Taten des zivilen Ungehorsams der Aktivisti standen nie in einem zu rechtfertigenden Verhältnis. Ich bin als Mutter von den Autobahnbahn-Aktionen rund um den Danni nicht begeistert. Sie haben zu viele negative Reaktionen in den Medien hervorgerufen. Aber sie waren nicht unüberlegt und mit großer Wahrscheinlichkeit keine Straftat. Der Vorwurf des „gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr“ musste sofort fallen gelassen werden. Die Aktivisti hingen nicht tief genug von den Brücken, damit dies der Fall gewesen wäre. Der verbliebene Vorwurf der „Nötigung“ – weil Autofahrer im Stau standen – ist so konstruiert, dass auch er juristisch vermutlich nicht haltbar sein wird. Wenn die Verfahren – soweit überhaupt welche eingeleitet wurden – eingestellt werden, wird die Presse vermutlich nicht oder nur ganz am Rande darüber berichten. Das ist dann nicht interessant genug.
Die Bezeichnungen, die einzelne Politiker für diese Aktivisti verwendet haben, waren bodenlos. Und mehrere Wochen U-Haft für diese Art von Protest sind absolut unverhältnismäßig und politisch motiviert. Der Auffahrunfall, der bei einer dieser Aktionen geschah, ereignete sich nicht in Sichtweite zur Brückenaktion. Es war einfach eine unglückliche Unachtsamkeit eines Autofahrers, die sehr zu bedauern ist und auch von den Aktivisti bedauert wurde. Natürlich kann so eine Aktion einen Autofahrer oder eine Autofahrerin ablenken, daher wären sie meiner Meinung nach besser nicht durchgeführt worden.
Warum mein Kind?
Ich verstehe, was die Aktivisti an den Brücken beabsichtigt haben. Sie wollten die Rodungen ein klein wenig verzögern. Und sie wollten mit den Aktionen in der breiten Öffentlichkeit auffallen. Weil der friedliche zivile Ungehorsam im Danni, mit den eigenen Körpern, die Bäume zu schützen, nicht genügend Aufmerksamkeit auf das eigentliche Ziel lenkte: nämlich dass eine Verkehrswende notwendig ist und Geld besser in den Ausbau von Nah- und Schienenverkehr gesteckt werden sollte, als darin, Autobahnen zu bauen und wertvolle Ökosysteme zu zerstören.
Warum hing unser Kind an der Autobahnbrücke? Weil es weiß, dass es ohne Auto geht? Den Führerschein hat es nie gemacht. Wir haben kein eigenes Auto mehr, seit unser Kind zwei Jahre alt ist. Wir waren immer viel mit Nahverkehrsmitteln und der Bahn unterwegs. Als es zehn Jahre alt war, fuhr es das erste Mal allein mit dem Zug. Wenn wir doch ein Auto benötigen, dann machen mein Mann und ich Carsharing. Der Grund, warum wir damit vor fast zwei Jahrzehnten angefangen haben, war, dass wir junge Eltern uns kein sicheres Auto leisten konnten und das Wertvollste, das wir hatten – unser Kind – nicht in einer Schrottkiste herumfahren wollten. Wir haben weitergemacht, weil es Kosten spart, wir uns nicht um Kundendienst und Reifenwechsel kümmern müssen, nie mehr ein Parkplatzproblem haben und gut für die Ökobilanz ist es auch noch. Sofern man in einer Stadt wohnt, kann ich Carsharing nur empfehlen.
Unglaublich viel gelernt
Wie geht es weiter? Wir wissen es nicht. Unser Kind hat bereits im Sommer die Befürchtung geäußert, dass sich Teile der Klimagerechtigkeitsbewegung radikalisieren könnten, weil große „Fridays for Future“-Demos wegen Covid19 nicht mehr stattfinden und die Politik keine Veranlassung sieht, ausreichende Maßnahmen gegen die Klimaerwärmung zu ergreifen. Die Staatsmacht hat sich im Danni nun gnadenlos durchgesetzt, obwohl es andere Handlungsoptionen gegeben hätte. Das hat sicherlich Teile der Bewegung so frustriert, dass eine Radikalisierung zu befürchten ist. Um dies zu verhindern, sollte die Politik endlich handeln und insbesondere den Bundesverkehrswegeplan, der bis 2030 allein 44 Autobahn-Neubauprojekte und 169 Ausbauprojekte im gigantischen Volumen von knapp 38 Milliarden Euro vorsieht, so überarbeiteten, dass er die aktuellen alarmierenden Daten zu Klima- und Umweltschutz berücksichtigt.
Ob mein Kind sein Studium wieder aufnehmen, zur nächsten Waldbesetzung weiterziehen oder einen ganz anderen Weg wählen wird, weiß ich nicht. Diskussionen innerhalb der Familie haben wir bis nach Weihnachten vertagt. Wir sind als Eltern dazu verpflichtet, unser Kind bis zum Abschluss der ersten Ausbildung finanziell zu unterstützen, bis es seinen Lebensunterhalt eigenständig bestreiten kann. Ich bin mir aber nicht mehr sicher, ob dieses Ziel auf akademischen oder formalen Wege erreicht werden muss. Sehr beeindruckt hat mich – die ich selbst im staatlichen Bildungsbereich tätig bin – dass die Aktivisti rund um den Danni nun die Gründung eines informellen Bildungszweiges begonnen haben.
Mein Kind hat im vergangenen Jahr unglaublich viel gelernt, und auch in meinem Kopf hat sich einiges geändert. Ich bin stolz auf mein Kind und habe größten Respekt vor seinem unglaublichen Mut. Trotz aller mütterlichen Ängste bin ich zuversichtlich, dass es den richtigen Weg für sich selbst finden wird. Es muss nicht der Weg sein, den sich seine Eltern so gerne vorgestellt haben.
► Nächter Danni-Eltern-Beitrag (8): Wir Eltern denken kritisch - unser Kind handelt
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