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"Die Klimakrise ist die kleinere Katastrophe"

Interview mit Prof. Matthias Glaubrecht zur Biodiversitätskrise (Artensterben)

Die mit Abstand größte ökologische Krise, in der sich die Menschheit befindet, ist die Erderwärmung – da sind wir uns fast alle einig. Aber stimmt das auch? Der renommierte Evolutionsbiologe Matthias Glaubrecht, wissenschaftlicher Direktor des Centrums für Naturkunde der Universität Hamburg, widerspricht: Deutlich gefährlicher als der Klimawandel sei das grassierende Artensterben – nicht nur für Millionen von Tier- und Pflanzenarten, sondern auch für unseren eigenen Fortbestand. Das Problem sei nicht nur, dass wir völlig falsch fokussieren, sondern dass wir dabei im Kampf gegen den Klimawandel das Artensterben bisweilen sogar noch forcieren. Ein unbequemes Interview.

Pro Wald: Herr Professor Glaubrecht, "Wald" in Deutschland – ist das noch Natur – oder was ist das eigentlich? Ich habe den Eindruck, dass jeder etwas anderes darunter versteht.

Matthias Glaubrecht: Das ist tatsächlich so. Streng genommen ist Wald bei uns aus biologischer Sicht keine unberührte Natur mehr. Wir haben ohnehin auch weltweit kaum noch Wildnisgebiete, die unberührt von menschlichem Einfluss bestehen. Unser Wald ist ein von Menschenhand geschaffener Lebensraum, der eher eine Wirtschaftszone, eine Forstplantage ist. Der Mensch beackert Wälder im Prinzip so wie die Felder in der Landwirtschaft.

Pro Wald: Sie beschäftigen sich als Evolutionsbiologe wissenschaftlich mit der weltweiten Biodiversitätskrise. Wie schlimm ist die Lage – oder ist alles halb so wild?

Matthias Glaubrecht: Die Lage ist sogar viel schlimmer als sie gemeinhin wahrgenommen wird. Wir erleben gerade einen drastischen Artenschwund und stehen vor einem weiteren desaströsen Artensterben, das auch unser menschliches Überleben massiv bedroht. Das führen wir uns aber nicht vor Augen, auch weil wir mit den Arten, die auf der Roten Liste genannt sind, untaugliche Bezugspunkte haben.

Pro Wald: Woran liegt das?

Matthias Glaubrecht: Die Rote Liste fokussiert zu stark auf Flaggschiffe wie Tiger, Nashorn und Pandabär. Der wahre Artenreichtum und Artenschwund zeigt sich jedoch nicht bei den 5.600 Säugetierarten und auch nicht bei den etwa 11.000 Vogelspezies, sondern bei der eine Million Käferarten und anderen Insekten sowie bei den viele 100.000 Arten umfassenden weiteren Tierstämmen, allen voran den Weichtieren wie Schnecken und Muscheln. Und da diese Tiere häufig sehr klein sind und zudem sehr viele von ihnen auch noch in den Meeren leben, haben wir sie viel weniger auf der Rechnung, obwohl sie die Masse des Artenreichtums darstellen. Doch genau hier und in ihrem "geräuschlosen", das heißt meist unbemerktem Verschwinden zeigt sich das echte Ausmaß der gegenwärtigen Biodiversitätskrise.

Pro Wald: Von welchem Ausmaß sprechen wir hier?

Matthias Glaubrecht: Tatsächlich sind es derzeit nicht nur ein paar hundert Spezies, die in den vergangenen 500 Jahren verloren gegangen sind, sondern wir gefährden im Augenblick hunderttausende von Arten. Der Bericht des Biodiversitätsrates IPBES besagt, dass in den nächsten Jahren und Jahrzehnten bis zu eine Million Tierarten aussterben werden. Wenn wir uns zudem die Populationszahlen einzelner Arten ansehen, dann müssen wir feststellen, dass diese zwar nicht völlig verschwinden, aber dennoch in ihrem Ökosystem funktional keine Rolle mehr spielen werden.

Pro Wald: Bitte erläutern Sie das an einem Beispiel.

Matthias Glaubrecht: Der Tiger verdeutlicht dies exemplarisch: Im Jahr 1900 gab es schätzungsweise 100.000 dieser Raubkatzen in freier Wildbahn. Heute sind es noch maximal 4.000, von denen die meisten in geschützten Nationalparks oder gar in Gefangenschaft leben. Durch deren Zucht in Zoos werden wir zwar verhindern, dass Tiger physisch aussterben. Doch sie werden nur noch außerhalb ihres eigentlichen Lebensraumes weiterexistieren. Es werden noch viele Tierarten, insbesondere die großen, das Schicksal des Tigers teilen, weil wir ihnen in der Natur keinen Platz mehr lassen.

Pro Wald: Wie hat sich die Biodiversität hier bei uns in Deutschland entwickelt?

Matthias Glaubrecht: Wir haben den Artenschwund und das Artensterben bei uns unterschätzt, weil dieser Prozess so schleichend und lange Zeit unbemerkt vor sich geht. Noch sind ja etwa Kiebitz, Feldlerche und Rebhuhn nicht ausgestorben. Und selbst wenn wir Arten haben, die auf deutschem Staatsterritorium nicht mehr vorkommen, dann können wir immer noch hoffen, dass es in den Nachbarländern weiterhin Bestände gibt, zumal es ja kaum endemische, also nur in Deutschland beheimatete Arten gibt.

Wie sieht es denn konkret bei Kiebitz, Feldlerche und Rebhuhn aus?

Matthias Glaubrecht: Dramatisch. Ihre Bestände sind in den vergangenen drei bis vier Jahrzehnten zwischen 70 und 90 Prozent zurückgegangen. Bei den Insekten, insbesondere den Schmetterlingen, Fliegen, Mücken und Käfern ist es nicht anders: Wir verlieren mit den Lebensräumen auch die Bestands- und Populationszahlen. Das betrifft nicht nur das Insektensterben, sondern auch Reptilien, Amphibien und andere. Insgesamt ist von der Dynamik her gerade in den vergangenen Jahrzehnten ein rasantes Artensterben und ein rasanter Artenschwund feststellbar.

Pro Wald: In welchem Verhältnis stehen die Biodiversitätskrise in Deutschland und das globale Artensterben?

Matthias Glaubrecht: Wir leben in der sogenannten gemäßigten Zone der Erde, in der es natürlicherweise weniger Arten als in den Tropen gibt. Ein Beispiel: In Australien gibt es 770 Brutvogelarten, in Mitteleuropa sind es etwa 240. Wir haben hier also keinen Hotspot der Biodiversität, diese liegen in der Äquatorregion in den tropischen Regenwäldern, in den Savannen und in den tropischen Meeren. Dort gibt es viel höhere Artenzahlen, daher ist Deutschland eher am Rande zu betrachten. Das Artensterben ist jedoch global, das Problem besteht bei uns genauso wie in den Tropen und ist hier sogar leichter festzustellen, weil die Bestände besser dokumentiert sind.

Pro Wald: Gefährdete Arten rücken hierzulande oft nur dann ins öffentliche Bewusstsein, wenn Umweltverbände ihre Klagen gegen Bauprojekte mit Feldhamstern oder Fledermäusen begründen, die dort leben. Warum gilt Artenschutz in Deutschland bei vielen Menschen als absurde Ökospinnerei?

Matthias Glaubrecht: Klagen etwa gegen große Straßenbauprojekte, die natürliche Lebensräume zerstören, sind oft nur dann zulässig oder haben eine gewisse Aussicht auf Erfolg, wenn diese so begründet sind, dass konkrete, seltene Arten wie die genannten Feldhamster oder Fledermäuse unmittelbar betroffen sind. Die Konsequenz ist in der Regel, dass diese Bauvorhaben dennoch vollzogen werden dürfen. Allerdings erteilen Gerichte bisweilen sehr kostspieligen Auflagen wie etwa Unterführungen, die Autobahnen unter Feldhamster-Habitaten hindurchführen, oder "Fledermausbrücken" wie aktuell bei der Celler Ostumgehung. Auflagen also, die neue, massive ökologische Probleme nach sich ziehen, weil sie die Fragentierung noch erhöhen.

Das Problem ist, dass wir uns als Menschen von einem einmal, oft vor Jahrzehnten gefassten Plan, weiter in die Natur einzugreifen und diese Stück für Stück weiter zurückzudrängen, nicht abbringen lassen wollen. Die Versuche, dies durch vermeintliche „Umweltauflagen“ zu heilen, wirken oft absurd, weil sie es tatsächlich sind. Statt zu erkennen, dass unser Bestreben, immer mehr Flächen zu versiegeln, abwegig ist, spotten wir lieber über die wenigen Menschen, die versuchen, dies zu verhindern.

Pro Wald: Woher kommt unser Drang, die verbleibende Natur unseren Bedürfnissen zu unterwerfen?

Matthias Glaubrecht: Wir Menschen nutzen zwei Drittel der weltweiten Landoberfläche, in den Industrienationen sind es sogar noch deutlich mehr. Wir zersiedeln Landschaften und haben hier in Europa zudem eine enge Bevölkerungsdichte. Obwohl die Population bei uns nicht mehr wächst, steigt unser Flächenverbrauch etwa für Wohnbau, Industrieansiedlungen und Straßenbauprojekte weiter ungebremst. Daher üben wir einen enormen Druck auf die verbleibenden noch halbwegs naturbelassenen Flächen wie Ackerlandschaften und Wälder aus. Das alles ist für uns ganz selbstverständlich, wir denken nicht weiter darüber nach. Wir sind es gewohnt, uns auszubreiten, sobald wir das für notwendig erachten. Fremd ist uns hingegen, dass wir, um die Lebensvielfalt auf der Erde zu erhalten, die Bedürfnisse der Natur berücksichtigen müssen. Der Konflikt besteht also darin, dass es vielen Menschen nicht passt, wenn anderen Lebewesen ein Existenzrecht eingeräumt wird, sofern dieses unseren Expansionsbestrebungen zuwiderläuft.

Pro Wald: Der Mensch fühlt sich – biblisch gesprochen – also als „Krone der Schöpfung“ und nährt daraus sein Selbstverständnis. Wie denken Sie darüber?

Matthias Glaubrecht: Wir unterwerfen die Belange aller anderen Lebewesen und Landschaften unserem Selbstverständnis, dass wir als Menschen immer vorgehen. Das wird als ein Anachronismus in die Geschichte eingehen. In 200 bis 300 Jahren werden unsere Nachfahren diese Ansicht, dass wir unseren Nutzungsansprüchen alles unterworfen haben, genauso verständnislos betrachten wie wir Menschen heute die Tatsache, dass es früher Sklaverei und kein Frauenwahlrecht gab. Heute halten wir es für völlig selbstverständlich, den ökonomischen Interessen alle ökologischen Bedürfnisse unterzuordnen. Ich halte das für einen falschen und desaströsen Weg.

Pro Wald: Was sind die Gründe dafür, dass Umweltorganisationen, die etwa gegen Autobahntrassen durch Wälder klagen, allenfalls eine gewisse, vom Bauherren bereits einkalkulierte Bauverzögerung sowie die bereits angesprochenen Auflagen erreichen – dass sie aber den Bau selbst meist nicht verhindern können? Warum hat die Natur hier keine Rechte?

Matthias Glaubrecht: Diese Beobachtung ist leider richtig. In anderen Ländern wie etwa Neuseeland sind die Menschen da schon weiter: Dort gibt es die Vorstellung, dass etwa ein Fluss, vertreten durch einen Ranger und einen Maori, eine Firma, die den Fluss vergiftet, verklagen kann, weil man diesem Landschaftselement ein Recht auf Unversehrtheit einräumt. Wir in Mitteleuropa sind weit entfernt, so etwas überhaupt zu erwägen. Doch auch wir sollten über Rechte der Natur, Rechte von nichtmenschlichen Lebewesen und Rechte von Lebensräumen nachdenken.