
Nehmt die Masken ab! Zeigt Euer Gesicht!
1. Teil der Interview-Reihe: Stimmen in den Dannenröder Forst
Nach mehreren Abseilaktionen einiger Aktivist:innen von Autobahnbrücken ist der öffentliche Zorn nicht nur über hunderte Waldbesetzer:innen im Dannenröder Forst, sondern über die gesamte Wald- und Klimaschutzbewegung hereingebrochen – insbesondere, nachdem ein Autofahrer am 13. Oktober auf ein Stauende aufgefahren ist und sich dabei schwer verletzt hat. Keine zwei Wochen danach haben sich Aktivist:innen erneut von drei Autobahnbrücken abgeseilt. Unter ihnen auch die etwa 20-jährige Studentin Zora (Waldname), die in der Nähe des Frankfurter Kreuzes mehrere Stunden lang über der A5 hing – mit verheerenden Folgen sowohl für sie selbst als auch für die öffentliche Wahrnehmung der Waldbesetzer:innen. In einer Mischung aus Interview und Streitgespräch hat sich Pro Wald mit Zora über die umstrittene Aktion und ihre Motivation unterhalten. Hat sie schwere Unfälle bewusst in Kauf genommen, und wie hoch ist der Schaden oder der Nutzen derartiger Aktionen für den Waldschutz? Was ist Zora nach der Festnahme durch ein SEK widerfahren, und warum hat sie ihrer Ansicht nach keine Straftat begangen?
Pro Wald: Zora, an welcher Abseilaktion von einer Autobahnbrücke hast Du teilgenommen?
Zora: Ich habe mich am 26. Oktober von einer Autobahnbrücke zwischen dem Frankfurter Kreuz und dem Neu-Isenburger Stadtteil Zeppelinheim über der A5 abgeseilt - allerding ohne in den Verkehrsraum von 4,70 Metern einzugreifen.
Pro Wald: 4,70 Meter über dem Boden also – hast Du Dich vorher informiert, ab wann eine Gefährdung beginnt und welche rechtlichen Konsequenzen das hat?
Zora: Ja klar, zum Beispiel wurden vorher alle Gegenstände, die ich bei mir trug, an mir festgemacht, sodass nichts herunterfallen konnte. Und wir haben genau auf den Abstand zur Straße geachtet. Da ich nicht unter die 4,70 Meter kam, ist es kein Eingriff in den Verkehrsraum und somit als eine Art Versammlung auf der Brücke anzusehen. Ich habe mich auch sehr mit eventuellen Folgen beschäftigt, gerade wegen des schweren Auffahrunfalls am 13. Oktober bei einer vergleichbaren Aktion auf einer Brücke über der A3 beim Limburg, als ein Auto auf das Stauende aufgefahren war. Ich habe mir daher überlegt, wie man trotzdem an die Öffentlichkeit treten kann, trotz und gerade wegen dieses Unfalls.
Pro Wald: Wie hast Du Dich ansonsten auf die Aktion vorbereitet?
Zora: Ich habe zuvor nicht an einer Brücke trainiert oder so etwas. Aber ich hatte bereits Klettererfahrungen, sonst hätte ich das nicht gemacht.
Pro Wald: Wie ist die Aktion genau abgelaufen?
Zora: Nachdem ich mich mit drei weiteren Menschen abgeseilt habe, kam dann auch relativ schnell die Polizei. Die weiteren Menschen, die noch auf der Brücke standen, wurden brutal weggezogen und die Brücke gesperrt, wir blieben hängen. Dann wurde die Autobahn abgesperrt, die letzten Autos fuhren noch unter uns durch, dann war alles leer. Auf beiden Seiten, jeweils fünf Spuren – das dauerte alles. Dann kam die Feuerwehr und das SEK [Sonderreinsatzkommando der Polizei, d. V.], das uns letztendlich herunteruntergeholt hat. Insgesamt hingen wir etwa dreieinhalb Stunden, die Autobahn war rund vier Stunden lang gesperrt.
Pro Wald: Du hast es schon angesprochen, dass es bereits zwei Wochen zuvor eine Abseilaktion von der A3 gegeben hatte. "Bei Idstein führte eine Blockade der A3 zur Vollsperrung, einem schweren Unfall und Festnahmen“, meldete die HR-Hessenschau am 13. Oktober noch recht zurückhaltend, ebenso wie die FNP mit „Blockade der A3 löst schweren Unfall aus“, während die Bildzeitung titelte„ „Autobahn-Hasser lösen Horror-Crash aus“. Die Reaktion in durchweg allen Medien war desaströs. Warum hast Du trotzdem daran mitgewirkt, dass sich eine solche Aktion wiederholt?
Zora: Es ist schrecklich, dass sich dieser Mensch so schwer verletzt hat. Und dass es gerade am Tag der Abseilaktion aufgrund der polizeilichen Räumung passieren musste, ist keine gute Sache. Die Verantwortung für den Unfall auf die Aktivisti zu schieben, halte ich dennoch für falsch. Ich habe an der erneuten Aktion teilgenommen, um gerade wegen des schweren Unfalls darauf aufmerksam zu machen, dass es täglich 1.053 Verletzte und neun Tote durch Autobahnunfälle gibt – das zeigt der Tagesdurchschnitt im Jahr 2019. Diese Menschen sterben, ohne dass es irgendwen interessiert: Keine Presse berichtet darüber, und es wird einfach hingenommen, dass auf Autobahnen ‚halt so schwere Unfälle passieren‘. Werden daraus Konsequenzen gezogen? Nein. Ich nehme Anteil an dem Unfall und dem schweren Verlauf der Verletzungen. Kein Mensch sollte in diese Situation kommen. Dass die Presse, insbesondere die Bildzeitung, Tatsachen verkürzt und reißerische Schlagzeilen druckt, damit war zu rechen. Beeinflussen kann mensch das jedoch nicht.
Pro Wald: Habt Ihr vor der Abseilaktionen mit den Menschen gesprochen, die am 13. Oktober am der Aktion auf der A3 teilgenommen haben - und was sie im Rückblick darüber denken?
Zora: Ich denke, wenn mensch in so eine Aktion geht, wird im Vorfeld über mögliche Folgen nachgedacht. Ich denke trotzdem, dass die Aktivisti sehr betroffen waren, kann aber auch nicht für sie sprechen. Es ist aber wichtig, sie nicht zu beschuldigen.
Pro Wald: Ich habe mit einer Aktivistin, die zwei Wochen zuvor dabei war, gesprochen. Es belastet sie sehr, auch wenn sie nicht die Schuld tragen will. Meine Frage war, ob Ihr das vor Eurer Aktion auch getan habt, um diese direkten Erfahrungen in Eure Entscheidung einzubeziehen, was nicht der Fall zu sein scheint. Hättet Ihr nicht damit rechnen müssen, dass sich ein solcher Vorfall wiederholt, im schlimmsten Fall sogar mit tödlichem Ausgang?
Zora: Das Problem an der Sache ist, dass wir in der Aktion gar nicht und vor allem nicht ‚schwer‘ in das Verkehrsgeschehen eingegriffen haben. Es liegt im Ermessen der Polizei, dass sie sich dazu entschließt, die Autobahn zu sperren und damit einen Stau zu verursachen. Was ist beispielsweise mit Menschen, die auf der Brücke herumtanzen oder ein Transparent über das Geländer halten? Die können genauso die Autofahrer:innen stören und verwirren. Die Frage ist doch, wie der Diskurs um die heranschreitende Klimakatastrophe in die Öffentlichkeit kommt. Wer etwas ändern will, muss eben stören und provozieren, um gesellschaftliche Debatten zu entfachen.
Pro Wald: Ja klar, es hätte auch ein Wildschwein über die Straße rennen und einen schweren Unfall verursachen können - aber Tatsache ist nun einmal, dass der Unfall passiert ist, nachdem die Polizei die Straße abgesperrt hat, WEIL Aktivisti von der Brücke hingen. Hand aufs Herz: War die Autobahnsperrung nicht sogar das Ziel?
Zora: Mein Ziel war es, dass Menschen sich Gedanken darüber machen, dass wir nicht weiter so Ressourcen verschwendend leben können. Ich richte mich damit auch an die Politik. Es kann nicht sein, dass wir auf Kosten der Natur leben, und auch auf unsere eigenen Kosten, nur um kapitalistischen Interessen nachzugehen.
Pro Wald: „Wer etwas ändern will, muss eben stören und provozieren, um gesellschaftliche Debatten zu entfachen“, sagst Du oben. Bis zu einem gewissen Grad stimme ich Dir zu, aber irgendwann ist der Punkt erreicht, an dem es nicht mehr zielführend, sondern sogar kontraproduktiv ist, die Gesellschaft gegen sich aufzubringen, statt sie mitzunehmen. Nach dem Unfall standen nicht nur die A3-Abseiler:innen massiv in der Kritik, sondern die vielen hunderte Aktivistis, die im Dani protestiert haben und auch noch die vielen Millionen, die ihren Protest wohlwollend begleitet haben. Ich persönlich bin der Meinung, dass die A3-Aktion der Wald- und Klimaschutzbewegung einen Bärendienst erwiesen hat. Wie siehst Du das?
Zora: Ich sehe diese Aktion als Soli-Aktion für den Danni und damit auch ein wenig losgelöst davon. Es war gerade mein Ziel zu provozieren und Debatten anzustoßen, ich wollte die Aufmerksamkeit auf ein Thema ziehen, das schon längst ein Ding in unserer Gesellschaft sein sollte: die Ökologische Verkehrswende. Das Problem ist jedoch, dass viele Menschen nicht sehen wollen, dass dies uns alle angeht und betrifft. Wir brauchen nicht den "deutschen Autowohlstand", sondern ein gerechtes Konzept für alle, das bedeutet etwa, dass wir weg von Individualverkehr hin zu einem komplett ausgebautem ÖPNV-Netz kommen müssen, und das alles auch noch kostenlos. Auch wenn Menschen die Aktion zu ‚radikal‘ fanden, dann hat sie doch immerhin eine Diskussion ausgelöst.
Pro Wald: Ja, das hat sie – aber die falsche. Denn nach dem A3-Unfall ging die Debatte nicht mehr darum, ob wir als Gesellschaft nach drei Dürresommern infolge und inmitten des grassierenden Klimawandels noch gesunde Wälder für seit 40 Jahren unnötige Autobahnen vernichten dürfen. Sondern die Debatte dreht sich nun darum, wie sehr – sorry, das sind nicht meine eigenen Ausdrücke – Ihr „Ökoterroristen“ einen „an der Klatsche“ habt, ob Euch Recht und Gesetz überhaupt etwas bedeuten und ob Ihr bereit seid, für Eure „durchgeknallten Ideen“ Menschenleben zu opfern. Die Diskussion um Umwelt-, Klima- und Waldschutz und Verkehrswende wird seitdem praktisch nicht mehr geführt, weil die gesamte Klima- und Waldschutzbewegung massiv in die Defensive geraten ist.
Zora: Woher stammen die Zitate?
Pro Wald: Leider längst nicht mehr nur aus Publikationsorganen wie der Bildzeitung, sondern das ist der Ton in inzwischen fast sämtlichen Facebook-Kommentarspalten aller Medien einschließlich Süddeutscher Zeitung und Tagesschau unter Beiträgen, die das Thema "Dannenröder Forst" und "Waldbesetzung" auch nur sachte tangieren. Es gibt eine riesige Hasswelle gegen Wald- und Klimaschützer in Deutschland, hast Du diese noch nicht wahrgenommen?
Zora: Ich habe mich natürlich auch damit auseinandergesetzt. Was ich schade finde, ist, dass wir über Facebook-Kommentare reden müssen, da diese bestimmt nicht die Meinung der ‚bürgerlichen Mitte‘ widerspiegelt, also derer, die sich von der Klimabewegung abgewandt haben. Für diejenigen, die schon vorher eine negative Meinung gegenüber dem Engagement im Danni hatten, ist dieser Unfall ein gefundenes Fressen. Ich sehe mich als einen Teil des gesamten Klimagerechtigkeitskampfes. Denn es gibt Menschen, die auf die Straße gehen, es gibt Menschen, die Vorträge halten und zu denen gerne die Facebook-Kommentator:innen gehen können, und es gibt Menschen, die Bäume besetzen. Das alles ist notwendig und alles ist gleich wichtig. Doch gerade dass diese Aktionsform so heftig diskutiert wird, zeigt doch, dass es noch viel Aufklärungsbedarf gibt. Wir brauchen alle ein ökologisches Bewusstsein, um die Klimakatastrophe noch halbwegs stoppen zu können.
Pro Wald: Die Darstellung der Proteste im Danni und insbesondere auch die Abseilaktionen sind durch die Bank in nahezu allen Medien aus Sicht der Aktivisti schlecht bis desaströs – es geht also nicht allein um die Bildzeitung und den Hass-Mob, der sich auf Facebook austobt. Du hast völlig Recht, dass Unfall ein „gefundenes Fressen“ für diejenigen ist, die der Klimabewegung und dem Waldschutz ohnehin ablehnend gegenüberstehen. Aber wenn Du das weißt: Warum lieferst Du diesen Menschen dann diesen „Fressen“ auf dem Silbertablett? Statt die Gesellschaft von der Notwenigkeit des Waldschutzes überzeugen zu können, müssen sich Umweltschützer nun permanent rechtfertigen und klarstellen, dass sie keine Terroristen sind.
Zora: Klar, wie soll sich auch eine positive Meinung zu den Protesten bilden, wenn die Presse lückenhaft berichtet und ein Bild davon zeichnet, welches die staatlichen und somit auch die kapitalistischen Interessen widerspiegelt? Dass es mehrere Unfälle bei der Räumung im Danni mit Stürzen aus teilweise sechs Metern Höhe und schweren Wirbelschäden als Folge gab, die Polizei Elektroschocker in 15 Meter Höhe und Wasserwerfer bei Schneefall einsetzt und dadurch die Gesundheit von allen Menschen gefährdet - darüber wird nicht berichtet. Diese Handlungen sind sehr brutal und unverhältnismäßig. Ich denke, wenn sich mehr Menschen tatsächlich damit auseinandersetzen und sich informieren würden, dann wäre die öffentliche Meinung wahrscheinlich ganz anders.
Pro Wald: Ja eben, das ist doch genau der Punkt. Die Presse- und Medienlandschaft in Deutschland ist ja sehr vielfältig, sie deckt das ganze politische Spektrum ab und steht daher normalerweise allenfalls in Teilen, aber keineswegs geschlossen an der Seite des Staates. Welchen Anteil an der offensichtlich tendenziösen Berichterstattung haben, glaubst Du, solche Aktionen wie die auf den Autobahnbrücken? Die Berichterstattung etwa über die Proteste im Hambacher Forst war aus Perspektive der Waldschützer:innen ja deutlich weniger voreingenommen.
Zora: Naja, wir können gerne über die Objektivität mancher Presseberichterstattungen diskutieren. Das Interessante daran ist, in welcher Weise gerade berichtet wird. Im Protest um den Hambacher Forst ging es darum, dass Familien aus ihrer Heimat vertrieben wurden und der Wald der längst als umweltschädlich erkannten Braunkohleförderung weichen sollte. Die Proteste und Bürger:inneninitiativen haben dazu geführt, dass dies heute nicht mehr vermittelbar ist. Anders ist es dagegen im Kampf im Dannenröder Forst für eine ökologische und soziale Verkehrswende. Denn den guten Bürger mit seinem geliebten SUV anzugreifen, das geht natürlich nicht. Deshalb hat die Gesellschaft auch kein Verständnis für unsere Aktionen.
Pro Wald: Das Narrativ in der Berichterstattung über den Hambacher Forst hast Du meiner Meinung nach richtig benannt: Braunkohle, zerstörte Wälder, vertriebene Familien. Deshalb war der Protest am Ende erfolgreich. Im Dannenröder Wald hätte das Narrativ lauten können: ‚Dreihundert Jahre alter, gesunder Mischwald, eine Autobahn, die so unwichtig ist, dass sie mehr als 40 Jahre lang niemand gebaut hat und doch wird sie ausgerechnet jetzt, nach drei Dürresommern in Folge durchgesetzt.‘ Aktionen wie die auf den Autobahnbrücken haben jedoch ein neues Narrativ gesetzt, nämlich: ‚Ökoterroristen halten sich nicht an Recht und Gesetz und gefährden für ihre Spinnereien sogar Menschenleben.‘ Und das ist ein wichtiger Grund, warum sich der Erfolg in Hambach nicht in Dannenrod wiederholt hat. Was ich denke: Hier ist die gesamte Umweltbewegung über einige nicht zu Ende gedachter Aktionen, ausgeführt von verhältnismäßig kleinen Gruppen, gestolpert.
Zora: Ich habe das Gefühl, dass die Fragen beabsichtigen, dass ich mich aufgrund der negativen Reaktionen von der Wirkung der Abseilaktionen distanzieren soll. Hier werden wir nicht auf einen gemeinsamen Nenner kommen. Was jedoch fest steht, ist, dass wir uns alle fragen sollten, wie wir miteinander und mit unserer Umwelt umgehen wollen. Wir sollten soziale Bedürfnisse vor wirtschaftliche Interesse stellen. Wir sollten uns dafür einsetzen, dass es beispielsweise mehr Fahrradstraßen gibt und autofreie Innenstädte. Ein weiterer Ansatz ist es, den Güterverkehr mehr auf Schienen zu verlagern. Denn neue Autobahnen führen zu mehr Verkehr, zu mehr Lärm und zu mehr Dreck. Weshalb es uns auch alle etwas angeht: Das hohe Verkehrsaufkommen wird durch die hohe Nachfrage an globalen Waren verursacht, und deshalb gehört es auch zu einer sozialen und ökologischen Verkehrswende, Konsum und Warenaustausch zu reduzieren. Also sollten wir keine unnötigen Diskussionen darüber führen, ob, wie, wann und wo welche Aktionen sinnvoll sind. Denn wenn wir jetzt nicht langsam anfangen, entschlossen zu handeln, dann wird es zu spät sein. Diese Sache betrifft uns alle!
Pro Wald: Du hast Recht, dass ich meine Rolle als distanziert fragender Journalist im Laufe des Gesprächs verlassen habe. Wir haben zuletzt ein Experten- oder Streitgespräch zweier Personen geführt, die rein in Punkto Waldschutz dasselbe Ziel haben, aber völlig unterschiedliche Wege für sinnvoll halten, dieses zu erreichen. Die Frage, die sich stellt, ist: Muss die Gesellschaft konfrontiert werden? Oder muss sie überzeugt werden? Hier haben wir unterschiedliche Ansichten. Kehren wir nun aber zur klassischen Interviewform zurück: Was hältst Du von der Idee, dass sich Waldschützer bei künftigem Engagement wie Waldbesetzungen auf einen abgestimmten Verhaltenskodex einigen, der besagt, welche Maßnahmen sinnvoll sind und was zu unterlassen ist? Mit dem Ziel, die „Rettung der Wälder“ mit möglichst breiter Unterstützung aus der Bevölkerung zu erreichen?
Zora: Ich mag diesen Gedankengang nicht, dass alle Menschen, die für den Erhalt dieses Waldes oder generell der Wälder kämpfen, sich alle auf einen "Verhaltenskodex" einigen könnten. Als gäbe es geschriebene Gesetze, wie was zu funktionieren hat. Ich begreife die Klimabewegung als losen Zusammenschluss von Menschen und Gruppen, die alle autonom und für sich selbst sprechend agieren. Für mich ist es auch deshalb ein Kampf gegen Machtstrukturen und Hierarchien, bei dem es darum geht, diese abzubauen. Das Ziel "Rettung der Wälder" ist also nur eins der vielen Ziele, die Menschen haben können. Für mich sind eine ökologische Verkehrswende, nachhaltige Lebenskonzepte und ein nicht profitorientiertes System ebenfalls Ziele, die in diesem Kampf mitspielen.
Pro Wald: Wie ist es Dir nach der Autobahn-Aktion ergangen?
Zora: Wir wurden in die Frankfurter Gefangenensammelstelle, kurz Gesa, gebracht. Dort blieben wir bis zum nächsten Tag, wurden dann ins Gericht gefahren und am Abend der Haftrichterin vorgeführt. Von den mehr als 30 Leuten, die in der Gesa waren, wurden zehn Menschen in U-Haft in Frankfurt-Preungesheim gesteckt. Die letzte Person kam erst Anfang dieser Woche frei – nach sieben Wochen Haft! Es sitzen nach wie vor weitere Menschen in U-Haft, die im Kontext des Dannenröder Forstes in Gewahrsam genommen wurden.
Pro Wald: Lag die lange U-Haft-Zeit daran, dass Ihr Eure Personalien nicht angeben wolltet?
Zora: Ja, der Haftgrund lag in der vermeintlichen Fluchtgefahr. Ohne Personalausweise und ohne dass wir unsere Personalien angeben, hätten wir nicht identifiziert und entsprechend auch keine rechtlichen Konsequenzen tragen müssen. Diejenigen, die Personalien angegeben haben, wurden unter krassen Auflagen aus dem Polizeigewahrsam entlassen. Wir hatten also vor der Haftrichterin nur die beiden Optionen: entweder Angabe der Personalien oder U-Haft. Wer sich erst später in der U-Haft dazu entschlossen hat, die Identität offenzulegen, musste anschließend trotzdem noch bis zu zwei Wochen warten, bis mensch freikam. Nach und nach haben wir alle unsere Personalien angegeben, sonst wären wir noch immer in Untersuchungshaft.
Pro Wald: Bei bis zu sieben Wochen U-Haft scheint die Staatsanwaltschaft Eure Rechtsauffassung, dass Ihr Euch lediglich auf einer Brücke versammelt hättet, nicht geteilt zu haben. Was wird Euch konkret vorgeworfen?
Zora: Vorgeworfen wird uns noch Nötigung, nachdem die Staatsanwaltschaft die ursprünglich postulierte Anklage wegen gefährlichem Eingriff in den Straßenverkehr nicht aufrechterhalten konnte. Der offizielle Haftgrund war wie gesagt Fluchtgefahr. Der eigentliche Grund könnte gewesen sein, dass weitere derartige Aktionen vereitelt werden sollten: Mit der langen Haft könnte ein politisches Exemple statuiert worden sein, um andere abzuschrecken. Also ein politischer Grund.
Pro Wald: Was hat es mit der Nötigung auf sich und wen sollt Ihr genötigt haben?
Zora: Nötigung ist ein Vergehen, also eine Straftat. Die Begründung war, dass die Verkehrsteilnehmer:innen auf der A5 zu langem Warten genötigt worden seien.
Pro Wald: Vor wenigen Tagen hat „Beppo“ im Interview mit mir darüber berichtet, wie es in der Gesa Frankfurt im Zusammenhang mit der im Identitätsfeststellung zu gewalttätigen und auch sexualisierten Übergriffen gekommen sei. Hat Dir auch jemand davon berichtet oder hast Du selbst ähnliche Erfahrungen gemacht?
Zora: Leider ist es der normale Umgang, den die Polizei mit Aktivisti an den Tag legt. Sobald Du in Gewahrsam bist, können sie tun und lassen, was sie wollen. Du wirst dort nicht mehr wie ein Mensch behandelt, sondern wie Dreck. Sie sagen "Das da" zu Dir, verwehren Dir den Toilettengang und interessieren sich nicht dafür, ob du Schmerzen hast. Du musst alles genau so machen, wie sie es wollen. Wenn Du da nicht mitmachst, kann es echt unschön werden
Pro Wald: Was heißt "unschön werden"?
Zora: Sorry, ich weiß nicht, ob ich darauf jetzt schon antworten kann. Es sind sehr persönliche Erfahrungen.
Pro Wald: Natürlich. Welche Bilanz ziehst Du aus der Danni-Besetzung?
Zora: Es wurde durch die Besetzung ein Ort des achtsamen Miteinanders geschaffen, an dem Menschen ressourcenschonend und hierarchiefrei leben, sich austauschen und gegenseitig voneinander lernen können. Dieses alternative Lebenskonzept zeigt einen Weg auf, der weg vom Massenkonsum hin zu einem naturnahen, konsumfreien, Ressourcen wiederverwertenden Lebensstil führt. Negativ ist, dass die Trasse nun gerodet ist. Jedoch ist die Autobahn längst noch nicht asphaltiert, und der Kampf noch lange nicht beendet.
Das Interview führte Ingo Fischer.
"Nehmt die Masken ab und zeigt Euer Gesicht!"
Als junger Mann hat Adrian Oertli rechtsstaatliche Gemeinwesen als Feind betrachtet – für ihn war der Staat ein zerstörerischer und korrupter Moloch, der ihn mit Hilfe des Großkapitals unterdrücken wolle und den es daher zu zerschlagen gelte – mit allen Mitteln. Heute hat er der Gewalt abgeschworen, Universitätsabschlüsse in Psychologie und Psychotherapie gemacht und eine Familie gegründet. Er praktiziert als Psychotherapeut in Zürich und befasst sich als Experte im „Radicalisation Awareness Networks“ der EU mit extremistischen Infiltrierungstechniken. Im Interview mit Pro Wald erklärt er, warum er sich Sorgen macht, dass die Waldbesetzer:innen linksextremistisch unterwandert werden könnten – und welche Anzeichen er bereits heute dafür sieht.
Pro Wald: Adrian, Du siehst offene Flanken für Linksextremismus in der Waldbesetzer-Bewegung. Welche Erfahrungen hast Du selbst mit Extremismus gemacht?
Adrian Oertli: Über einen Schulfreund habe ich mich mit etwa 20 Jahren einer linksextremen Organisation angeschlossen. Mit der Absicht, deren linksextremistische Ziele durchzusetzen, bin ich kurz darauf in die Gewerkschafts- und Antiglobalisierungsbewegung eingetreten. Meine Kampffelder waren die 1.-Mai-, Anti-Weltwirtschaftsforum- und Anti-Kriegs- Bewegungen, und bei der Antifa habe ich auch mitgemacht.
Pro Wald: Du hast also als junger Mann selbst versucht, wirtschaftskritische Organisationen und Gruppierungen zu unterwandern, um sie in eine extremistische Richtung zu lenken?
Adrian Oertli: Ja, bis vor mehr als zehn Jahren habe ich das selbst betrieben. Bei Beginn von Extinction Rebellion in der Schweiz war ich zuletzt etwas aktiv und habe miterlebt, wie sehr die Unterwanderung extremistischer Kräfte vor allem der Informationskanäle sehr stark forciert wurde. Die linke Bewegung hat etwa Extinction Rebellion sehr stark angegriffen und – so wie es heute aussieht – weitgehend zersetzt. Bei Aktionen um den Hambacher Forst und den Dannenröder Wald etwa steht oftmals nicht allein der Wald-, Umwelt- und Klimaschutz im Vordergrund. Sondern sie sind sehr stark geprägt von einer linken Ideologie mit dem Ziel des "Systemwechsels" hin zu einer sozialistischen oder anarchistischen Gesellschaftsform.
Pro Wald: Wieso hast Du Dich schließlich vom Extremismus abgewandt?
Adrian Oertli: Ich habe erkannt, dass der Glaube ‚der Zweck heiligt die Mittel‘ völlig falsch ist. Vielmehr sind es die angewandten Mittel, die den Zweck ausmachen. Krieg und Gewalt führen immer nur zu mehr Unterdrückung, aber niemals zu Befreiung.
Pro Wald: Wie bist Du zu dieser Erkenntnis gelangt?
Adrian Oertli: Wer Unterdrückung überwinden will, kann das ganz einfach, indem er sich nicht mehr unterdrücken lässt und sich so verhält, wie er es für richtig hält. Wer gegen etwas rebelliert, gibt dem, wogegen er rebelliert, viel zu viel Macht. Ich war fast ein Jahrzehnt in einer Szene aktiv, in der sich alles darum drehte, Unterdrückung zu beenden. Bis ich irgendwann festgestellt habe, dass es dort viel mehr Mobbing und informelle Machtkämpfe gibt als in der Gesellschaft, gegen die ich gekämpft habe.
Pro Wald: Du warst im Sommer 2007 bei den massiven Protesten gegen den G8-Gipfel in Heiligendamm dabei. Wie hast Du damals Gewalt erlebt?

Adrian Oertli: Die ersten Pflastersteinhagel bei den Protesten gegen den G8 in Heiligendamm sind aus dem Schwarzen Block geflogen. Ich war Teil dieses Blocks. Erinnern kann ich mich noch daran, wie sich die Polizei einfach zurückgezogen hat. Was dann beim Hafen von Rostock passierte, war mir ein völliges Rätsel: Die Polizeipräsenz war immens, dennoch konnten wir extrem gut herumspazieren und etwas Straßenschlacht ‚spielen‘. Es kam mir vor, als wurde dieser Raum zur Eskalation bewusst gegeben, und anstatt Gewalttäter festzunehmen, hat die Polizei ihnen mit dem Schlagstock etwas auf die Beine geschlagen und auf den nächsten Schlagabtausch gewartet. Ich verstehe diese Taktik bis heute nicht. Wir gingen hinein ins Kampffeld, manche schmissen ein paar Pflastersteine, die herumlagen. Wir liefen durch Polizeikontrollen wieder hinaus zu Nordsee, um uns ein Fischsandwich zu kaufen. Wer Lust hatte, ging nochmals herein – und das in einer Stadt, die von hochgerüsteter Polizei nur so gewimmelt hat!
Pro Wald: Was denkst Du heute über Dein damaliges Ich, das Pflastersteine auf Polizisten geworfen hat?
Adrian Oertli: Ich selbst habe keine Pflastersteine geworfen, ich hatte immer eine gewisse Hemmung, dies zu tun. Ich habe es jedoch propagiert und wohl auch einige dazu überredet. Im Nachhinein betrachtet sehe ich mich als jemanden mit einem sehr großen Bedürfnis nach Zugehörigkeit und Anerkennung, der sich von einem sehr destruktiven Umfeld manipulieren ließ. Ich war sehr naiv und sehr bedürftig ohne mit dies zuzugestehen und dadurch auch einfach zu beeinflussen.
Pro Wald: Aus strafrechtlicher Sicht sind die Ereignisse heute verjährt, Du hast den Weg in ein "bürgerliches Leben" eingeschlagen, kann man das so sagen?
Adrian Oertli: Ich bin heute 41 Jahre alt, Vater zweier Kinder und lebe mein Leben, wie ich es mir aussuche. Ich will meine innere Vielfalt und Widersprüchlichkeit nicht mehr in Schubladen pressen.
Pro Wald: Mit Gruppendynamiken rund um Gewalt befasst Du Dich inzwischen beruflich. Wie ist es dazu gekommen?
Adrian Oertli: Was meinen beruflichen Werdegang betrifft, habe ich Masterabschlüsse in Psychotherapie und Psychologie mit den Nebenfächern Psychopathologie und Kriminologie, arbeite heute als Psychotherapeut in Zürich und bin Experte im ‚Radicalisation Awareness Networks‘ der Europäischen Union. Dadurch habe ich ein tiefgehendes theoretisches und praktisches Wissen über Gruppenprozesse und soziale Beeinflussung. Dieses war sicherlich sehr hilfreich für mich, um meine eigene Biografie besser zu verstehen.
Pro Wald: Die Waldbesetzer:innen im Dannenröder Forst haben ihre Gemeinschaft als hierarchiefreies „Utopia“ betrachtet, in dem jeder Mensch wertgeschätzt und respektiert wird, sich mit seinen Fähig- und Fertigkeiten einbringen kann und autonome Entscheidung treffen darf. Das klingt erstmal schön. Welchen Blick hast Du mit deinem beruflichen und persönlichen Hintergrund darauf?
Adrian Oertli: Das hört sich einfach zu schön an, um wahr zu sein. Nur gibt es eben auch psychische und physische Gewalt bei den Waldaktivisten. Wenn man dieser gegenüber tolerant auftritt, dann gewinnen die Gewaltbereiten schnell die Überhand. Herrschaftsfreie Räume sind nur mit klaren Konzepten, wie man Gewalt begegnet, möglich. Für gewaltbereite Kräfte sind solche "Utopien" natürlich ein gefundenes Fressen. Wäre ich heute noch ein Linksextremist, würde ich mich in einer solchen Bewegung sehr wohl fühlen.

Pro Wald: Wo genau siehst Du psychische und physische Gewalt in der Gemeinschaft der Waldbesetzer:innen.
Adrian Oertli: Vordergründig sind da natürlich die Aktionen gegen die Polizei oder andere Kräfte der Abholzung zu nennen. Am schlimmsten finde ich angebrachte Metallstifte in Bäumen, die die Waldarbeiter hätten verletzen können. Hinzu kommen Konflikte, Machtspiele und schwierige Persönlichkeiten innerhalb der Gemeinschaft. So etwas gibt es überall und muss überhaupt kein Versagen darstellen, sondern es ist einfach menschlich. Wirklich gefährlich wird es, wenn man dies innerhalb der Gruppe nicht mehr thematisieren darf. So hat es wegen gewalttätiger oder diskussionswürdiger Aktionen im Zusammenhang mit dem Dannenröder Forst seitens der Aktivisten in meinen Augen zu wenig Distanzierung von diesen gegeben. Auch die ganze Anonymisierung und Vermummung von Aktivisten ist in seiner Symbolik nicht mit konsequenter Gewaltfreiheit zu vereinbaren.
Pro Wald: Welchen über den Schutz vor behördlicher Verfolgung hinausgehenden Zweck haben Vermummung und Waldnamen der Aktivist:innen?
Adrian Oertli: Menschen ihre eigene Identität zu nehmen und sie auf einen neuen Namen zu taufen ist in verschiedenen sektenartigen Gruppen oder Armeen ein altbekanntes Muster, um Menschen gefügig zu machen.
Pro Wald: Wie funktioniert das genau?
Adrian Oertli: Man arbeitet mit einer Spaltung der Persönlichkeit, indem man einen ‚guten‘ Anteil der Personen suggeriert, der nichts hinterfragt und mit allen Mitteln in den Krieg ‚gegen das System‘ einsteigt. Und trennt diesen von einem ‚schlechten‘ Teil, der Zweifel an der Effektivität und eine natürliche Abneigung gegenüber Gewaltanwendung hat. Oft wird auch suggeriert, dass der ‚schlechte‘ Anteil eine Folge der erzieherischen Manipulationen des ‚Systems‘ sei. Der ‚gute‘ Teil sei hingegen befreiter, authentischer und emanzipierter.

Pro Wald: ‚Gut‘ ist also die neue Identität, die den Krieg gegen das System will, und ‚schlecht‘ das alte Ich, das Zweifel hat und Gewalt ablehnt?
Adrian Oertli: Genau. Das Heilsversprechen lautet, dass das bestehende ‚System‘ – also unsere als Staat organisierte Gemeinschaft – vernichtet werden müsse. Danach werde sich alle Probleme wie von selbst lösen und alles werde gut. Das klingt etwas bescheuert – was damit zu tun hat, dass es auch wirklich bescheuert ist. Allein dadurch, dass es plötzlich alle in der Gemeinschaft glauben, wird es für die einzelnen Mitglieder trotzdem überzeugend.
Pro Wald: Warum sind wir so leicht zu manipulieren?
Adrian Oertli: Wir Menschen sind so sehr soziale Wesen, dass wir gerne unseren eigenen Verstand abgeben, um einer Gruppe zugehörig zu sein. Dies ist so sehr in uns verwurzelt, da wir schon als Frühmenschen außerhalb unserer Gruppe nicht überleben konnten.
Pro Wald: Welches Interesse haben sektenartige Gemeinschaften daran, ihre Mitglieder mittels neuen Namen und Masken von der Außenwelt abzugrenzen, und warum spielen die Mitglieder dabei mit?
Adrian Oertli: Man kontrolliert Menschen dadurch und isoliert sie erfolgreich in einer abgeschotteten und kontrollierten Gruppe, in dem man ihnen einredet, dass die Außenwelt böse ist und ihnen nur schaden will. Eine Maske zu tragen und die Anonymisierung dient dazu, Menschen zu isolieren – selbst vor solchen Menschen, die eigentlich dankbar und unterstützend zur Seite stehen würden. Das Wir-Gegen-Sie-Denken ist das Ergebnis einer paranoiden Angst vor der "normalen" Gesellschaft.
Pro Wald: "Böse" sind also nicht nur die Polizei, der Kapitalismus und der Staat, sondern im Extremfall alle außerhalb der engen Kern-Gemeinschaft - also durchaus auch Umweltschützer, die älter sind oder die ansonsten eine andere politischen Einstellung haben?
Adrian Oertli: Genau, man glaubt, dass man nur noch innerhalb der engen Gruppe auf Unterstützung hoffen kann. Man merkt zwar, dass man nicht so richtig satt wird, glaubt aber, dass es ‚draußen‘ noch schlimmer ist. Das kann durchaus so weit führen, dass andere Umweltschützer als hinterlistige Verräter dargestellt und empfunden werden können.
Pro Wald: Ist das jetzt allgemein gesprochen oder ganz konkret auf den Dannenröder Forst bezogen?
Adrian Oertli: Das ist allgemein gesprochen. Ob es im Dannenröder Forst so ist oder erste Anzeichen dafür bestehen, kann ich von außen nicht beurteilen. Wenn die Gemeinschaft der Aktivisten tatsächlich subtil-totalitäre Züge beinhielte, bräuchte man Aussteiger, die sich trauen, über das Innenleben zu sprechen. Die gibt es aber recht selten, weil es üblich ist, dass Aussteiger aus solchen Strukturen als Feinde dargestellt werden, die die Bewegung in Verruf ziehen. Es gilt ein sehr spießbürgerliches Dogma von "was in der Familie schiefgeht, bleibt in der Familie". Wer Probleme öffentlich macht, ist der Feind.

Pro Wald: Wir halten fest, dass diese Befürchtungen über strukturelle Gewalt im Innenleben der Gemeinschaft bislang auf Spekulationen beruhen und dass physische Gewalt bislang nicht zu den charakteristischen Merkmalen der Baumbesetzer im Dannenröder Forst gehört. Ist die Bezeichnung Ökoterroristen in Bezug auf die Waldbesetzer im Dannenröder Forst daher nicht maßlos übertrieben und diskreditiert das Engagement der Aktivisti? Ist es nicht eine willkommene Ablenkung, um unseren gewohnten Lebensstil hin zu weniger Individualverkehr, weniger Flugreisen, weniger oder keinem Fleischkonsum und Schutz der Wälder nicht infrage stellen zu müssen?
Adrian Oertli: Ja, der mediale und gesellschaftliche Fokus auf das Verhalten der Waldbesetzer ist unverhältnismäßig vor dem Hintergrund der grassierenden ökologischen Krise, in der wir uns befinden. Der Klimawandel und unser Umgang mit der Natur sollte unser Hauptfokus sein. Ich verstehe jedoch, dass der Vorwurf des Extremismus von außen stark an die Bewegung herangetragen wird, da sie sich in ihrem Inneren noch zu wenig mit dieser Problematik auseinandersetzt.
Adrian Oertli: Ja, der mediale und gesellschaftliche Fokus auf das Verhalten der Waldbesetzer ist unverhältnismäßig vor dem Hintergrund der grassierenden ökologischen Krise, in der wir uns befinden. Der Klimawandel und unser Umgang mit der Natur sollte unser Hauptfokus sein. Ich verstehe jedoch, dass der Vorwurf des Extremismus von außen stark an die Bewegung herangetragen wird, da sie sich in ihrem Inneren noch zu wenig mit dieser Problematik auseinandersetzt.
Pro Wald: Wie machen das andere Gemeinschaften?
Adrian Oertli: Die christliche Community hat schon lange Sektenberatungsstellen etabliert, um den Gefahren von fundamentalistischen Auswüchsen innerhalb des christlichen Milieus zu begegnen. Etwas ähnliches wünsche ich mir für die Umweltbewegung, damit Missstände in den eigenen Reihen effektiver angegangen werden können. Dies würde wohl nicht verhindern, dass manche Interessensgruppen den Vorwurf des Ökoterrorismus fallen lassen. Aber man könnte eigenes an Vertrauen bei weiten Teilen der Bevölkerung aufbauen oder wieder zurückgewinnen. Das wäre essenziell für wirkliche Erfolge.
Pro Wald: Es geht also nicht allein darum, das Innenleben der Gemeinschaft krisensicher zu machen, sondern auch, eine Botschaft an die Außenwelt zu senden. Bislang fehlt tatsächlich ein öffentliches Bekenntnis zur Gewaltfreiheit im zivilen Ungehorsam. Offenbar auch deshalb, weil sich die Aktivisti durch äußeren Druck nicht ‚spalten lassen‘ wollen.
Adrian Oertli: Die Begründung "Wir lassen uns nicht spalten" ist ein totaler Witz! Nicht Gewalt auszuschließen führt zur Spaltung, sondern die Gewalt selbst – im Individuum und mit dem Gegenüber. Es gibt eben nicht nur physische, sondern auch psychische Gewalt. Die politische Kultur insgesamt kränkelt sehr stark an gegenseitigem Mobbing, Diffamierungen und der Unfähigkeit, innere Konflikte respektvoll zu lösen. Bislang wird Gewalt gegen die Polizei in der Gemeinschaft der Danni-Besetzer zumindest toleriert, Polizeibeamte werden entmenschlicht. Es gibt Überschneidungen mit der linksextremistischen Bewegung, in der auch Gewalt gegen Rechte als legitim betrachtet wird. Als Rechte können dabei jedoch nicht nur Neonazis, sondern so ziemlich alle bezeichnet werden, die keine marxistische oder anarchistische Ideologie vertreten.
Pro Wald: Eine unterstellte Toleranz von physischer Gewalt der Aktivisti ist noch keine physische Gewalt. Bislang haben wir so gut wie keine physische Gewalt von Aktivist:innen gegen Polizisten oder Waldarbeiter erlebt - umgekehrt hingegen schon. Selbst die von Dir genannten Metallstifte in den Bäumen dienten offensichtlich nicht dazu, Waldarbeiter zu verletzen, sonst wären diese nicht zuvor gewarnt worden. Oder liege ich mit der Einschätzung falsch?

Adrian Oertli: Ich teile dieser Einschätzung aufgrund der Informationen, die mir bekannt sind. Bin aber jedoch nicht vor Ort und kann diesbezüglich keine fundierte Stellungnahme abgeben.
Pro Wald: Hätte es mehr physische Gewalt gegen Polizisten gegeben, dann hättest Du es mit Sicherheit erfahren – die Polizeipressestellen arbeiten hier sehr zuverlässig. Wir kommen zurück zu der von Dir angenommenen strukturellen-psychischen Gewalt im Innenverhältnis der Gemeinschaft der Aktivisti. Warum hältst Du das hierarchiefreie "Utopia" der Waldbesetzer:innen für eine selbstverleugnende Illusion?
Adrian Oertli: Dem liegt die Erkenntnis zugrunde, dass es in gesunden Gemeinschaften immer Konflikte gibt und geben muss. Als Reaktion darauf, dass Gewalt immer zu Machtstrukturen führt, hat unsere Gesellschaft den Rechtsstaat mit Gewaltenteilung entwickelt.
Gemeinschaften, die unser Staatswesen und dessen Prinzipien ablehnen, jedoch selbst kein eigenes griffiges Konzept haben, wie sie gewaltbereiten Kräfte im Inneren begegnen, sind extrem anfällig dafür, dass Gewalt nach und nach die Oberhand gewinnt und tonangebend wird. Formale Hierarchien abzuschaffen führt erfahrungsgemäß zu neuen, informellen Hierarchien, wo oft die besten Mobber den größten Einfluss gewinnen – ob mit oder ohne Maske im Gesicht. Das Zurschaustellen von absoluter Harmonie nach Außen ist ein sichtbares Anzeichen dafür, dass Menschen effizient zum Schweigen gebracht werden. Dies ist einfach ein Erfahrungswert aus meiner persönlichen Biografie. Aber vielleicht bin ich da auch zu misstrauisch.
Pro Wald: Du sagst, dass extremistische Unterwanderung koordiniert und auf höchstem Niveau passieren. Wie kann ich mir das konkret vorstellen?
Adrian Oertli: Man schafft ein Klima von Misstrauen untereinander und stellt jeden unter Generalverdacht, ein gekaufter Spitzel oder rechtsextremer Unterwanderer zu sein. Man gewinnt Kontrolle über offizielle externe und interne Kommunikationskanäle und schaut, dass kritische Stimmen zum Schweigen gebracht und diffamiert werden. Gehorsam wird belohnt und alles Kritische geahndet. Dies begleitet mit theoretischer Indoktrination mit klarem Schwarz-Weiß-Denken, dass der Rechtsstaat ein korruptes System sei, dem man nicht vertrauen dürfe.
Pro Wald: In welcher Form erfolgen in vermeintlich hierarchiefreien Systemen Belohnungen und Bestrafungen?
Adrian Oertli: Während sich das Gefäß basisdemokratisch gibt, werden in hierarchisch organisierten Geheimzirkeln illegale Aktionen und strategisches Vorgehen geplant. Belohnung und Bestrafung geschieht dann mehr oder weniger subtil, indem man Anpassung mit Anerkennung und Kritik mit Ablehnung bis hin zum Ausschluss straft. Wer etwa Aktionen in Frage stellt, boykottiert den reibungslosen Ablauf. Er sieht sich schnell dem Vorwurf ausgesetzt, ein zu großes Ego zu haben und nicht gruppenfähig zu sein.
Pro Wald: Die Waldbesetzer sind fast alle unter 25 Jahre alt, viele auch unter 20. Wie können sie eine mögliche extremistische Unterwanderung erkennen und sich schützen?

Adrian Oertli: Ich empfehle ihnen, sich mit Manipulationstechniken auseinanderzusetzen. Sektenberatungsstellen bieten zum Beispiel kompetente Hilfe an, wie man diese erkennt, aber auch Gewaltpräventionsstellen haben viel Erfahrung mit solchen Phänomenen. Größtmögliche Transparenz bei internen Konflikten ist sicherlich eine sinnvolle Strategie, um Unterwanderung zu verhindern. Man ist immer nur so krank, wie die Dinge, die man zu verheimlichen versucht.
Pro Wald: Die Empfehlung, eine Sektenberatungsstelle aufzusuchen, würde voraussichtlich als herablassende Unterstellung, eine Sekte zu sein, wahrgenommen werden und Abwehrreaktionen hervorrufen. Wie kann die Klimagerechtigkeitsbewegung aus sich heraus eine Strategie entwickeln, und was kann externe Expertise beisteuern?
Adrian Oertli: Sie können sich auch selbst das Wissen erarbeiten, wie Sekten funktionieren, etwa über frei zugängliche Online-Ressourcen.
Pro Wald: Wenn extremistische Unterwanderung hochprofessionell funktioniert, dann erscheint auch professionelle Hilfe angebracht, diese abzuwehren. Ist ein Verweis auf Internetseiten da nicht zu wenig?
Adrian Oertli: Eigene Schwächen einzugestehen und um Unterstützung zu bitten, ist etwas sehr Revolutionäres. Zuhören und Lernen ist genau das, was wir alle mehr brauchen. Wem Internetseiten nicht reichen, der kann sich auch direkt an mich wenden. Ich gehe gerne auf Fragen ein oder empfehle andere Anlaufstellen.

Pro Wald: Nun denn, hoffen wir, dass unser Gespräch gehört und gelesen wird. Du hast als Schlusswort jetzt noch die Gelegenheit, Dich direkt an die Aktivisti zu wenden. Was rätst Du ihnen?
Adrian Oertli: Nehmt die Masken ab. Zeigt Euer Gesicht. Macht uns alle unsere kollektive Verletzbarkeit bewusst, indem Ihr in jedem Moment Verletzbarkeit zelebriert. Nehmt klar Stellung gegenüber jeder Form von Gewalt. Distanziert Euch vor jeglichem Freund-Feind-Denken. Sucht immer nach größtmöglicher Verbindung in alle Richtungen. Öffnet einen freien Debattenraum. Ehrt Eure Wurzeln, und lernt von Erfahrungen Euer Ältesten. Vertraut ins Vertrauen. Sagt die Wahrheit und handelt ihr entsprechend. Stellt Euch radikal jeglicher Gewalt entgegen, und entblößt Euren Schmerz über das, was die kollektive Gewalt im Großen und Kleinen Tag für Tag anrichtet. Fürchtet Euren Schmerz nicht, sondern vertraut in die transformative Kraft der Offenlegung des Schmerzes. Schenkt Eurem Gegenüber die Zumutung, dass man von ihm erwartet, Verantwortung für das Leben zu übernehmen. Verweigert Euch dem Dogma, dass wir unabhängig voneinander existieren können.
Veröffentlicht am 4. Januar 2021
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