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Nehmt die Masken ab! Zeigt Euer Gesicht!

1. Teil der Interview-Reihe: Stimmen in den Dannenröder Forst

"Nehmt die Masken ab und zeigt Euer Gesicht!"

Als junger Mann hat Adrian Oertli rechtsstaatliche Gemeinwesen als Feind betrachtet – für ihn war der Staat ein zerstörerischer und korrupter Moloch, der ihn mit Hilfe des Großkapitals unterdrücken wolle und den es daher zu zerschlagen gelte – mit allen Mitteln. Heute hat er der Gewalt abgeschworen, Universitätsabschlüsse in Psychologie und Psychotherapie gemacht und eine Familie gegründet. Er praktiziert als Psychotherapeut in Zürich und befasst sich als Experte im „Radicalisation Awareness Networks“ der EU mit extremistischen Infiltrierungstechniken. Im Interview mit Pro Wald erklärt er, warum er sich Sorgen macht, dass die Waldbesetzer:innen linksextremistisch unterwandert werden könnten – und welche Anzeichen er bereits heute dafür sieht.

Pro Wald: Adrian, Du siehst offene Flanken für Linksextremismus in der Waldbesetzer-Bewegung. Welche Erfahrungen hast Du selbst mit Extremismus gemacht?

Adrian Oertli: Über einen Schulfreund habe ich mich mit etwa 20 Jahren einer linksextremen Organisation angeschlossen. Mit der Absicht, deren linksextremistische Ziele durchzusetzen, bin ich kurz darauf in die Gewerkschafts- und Antiglobalisierungsbewegung eingetreten. Meine Kampffelder waren die 1.-Mai-, Anti-Weltwirtschaftsforum- und Anti-Kriegs- Bewegungen, und bei der Antifa habe ich auch mitgemacht.

Pro Wald: Du hast also als junger Mann selbst versucht, wirtschaftskritische Organisationen und Gruppierungen zu unterwandern, um sie in eine extremistische Richtung zu lenken?

Adrian Oertli: Ja, bis vor mehr als zehn Jahren habe ich das selbst betrieben. Bei Beginn von Extinction Rebellion in der Schweiz war ich zuletzt etwas aktiv und habe miterlebt, wie sehr die Unterwanderung extremistischer Kräfte vor allem der Informationskanäle sehr stark forciert wurde. Die linke Bewegung hat etwa Extinction Rebellion sehr stark angegriffen und – so wie es heute aussieht – weitgehend zersetzt. Bei Aktionen um den Hambacher Forst und den Dannenröder Wald etwa steht oftmals nicht allein der Wald-, Umwelt- und Klimaschutz im Vordergrund. Sondern sie sind sehr stark geprägt von einer linken Ideologie mit dem Ziel des "Systemwechsels" hin zu einer sozialistischen oder anarchistischen Gesellschaftsform.

Pro Wald: Wieso hast Du Dich schließlich vom Extremismus abgewandt?

Adrian Oertli: Ich habe erkannt, dass der Glaube ‚der Zweck heiligt die Mittel‘ völlig falsch ist. Vielmehr sind es die angewandten Mittel, die den Zweck ausmachen. Krieg und Gewalt führen immer nur zu mehr Unterdrückung, aber niemals zu Befreiung.

Pro Wald: Wie bist Du zu dieser Erkenntnis gelangt?

Adrian Oertli: Wer Unterdrückung überwinden will, kann das ganz einfach, indem er sich nicht mehr unterdrücken lässt und sich so verhält, wie er es für richtig hält. Wer gegen etwas rebelliert, gibt dem, wogegen er rebelliert, viel zu viel Macht. Ich war fast ein Jahrzehnt in einer Szene aktiv, in der sich alles darum drehte, Unterdrückung zu beenden. Bis ich irgendwann festgestellt habe, dass es dort viel mehr Mobbing und informelle Machtkämpfe gibt als in der Gesellschaft, gegen die ich gekämpft habe.

Pro Wald: Du warst im Sommer 2007 bei den massiven Protesten gegen den G8-Gipfel in Heiligendamm dabei. Wie hast Du damals Gewalt erlebt?

Adrian Oertli: Die ersten Pflastersteinhagel bei den Protesten gegen den G8 in Heiligendamm sind aus dem Schwarzen Block geflogen. Ich war Teil dieses Blocks. Erinnern kann ich mich noch daran, wie sich die Polizei einfach zurückgezogen hat. Was dann beim Hafen von Rostock passierte, war mir ein völliges Rätsel: Die Polizeipräsenz war immens, dennoch konnten wir extrem gut herumspazieren und etwas Straßenschlacht ‚spielen‘. Es kam mir vor, als wurde dieser Raum zur Eskalation bewusst gegeben, und anstatt Gewalttäter festzunehmen, hat die Polizei ihnen mit dem Schlagstock etwas auf die Beine geschlagen und auf den nächsten Schlagabtausch gewartet. Ich verstehe diese Taktik bis heute nicht. Wir gingen hinein ins Kampffeld, manche schmissen ein paar Pflastersteine, die herumlagen. Wir liefen durch Polizeikontrollen wieder hinaus zu Nordsee, um uns ein Fischsandwich zu kaufen. Wer Lust hatte, ging nochmals herein – und das in einer Stadt, die von hochgerüsteter Polizei nur so gewimmelt hat!
 

Pro Wald: Was denkst Du heute über Dein damaliges Ich, das Pflastersteine auf Polizisten geworfen hat?

Adrian Oertli: Ich selbst habe keine Pflastersteine geworfen, ich hatte immer eine gewisse Hemmung, dies zu tun. Ich habe es jedoch propagiert und wohl auch einige dazu überredet. Im Nachhinein betrachtet sehe ich mich als jemanden mit einem sehr großen Bedürfnis nach Zugehörigkeit und Anerkennung, der sich von einem sehr destruktiven Umfeld manipulieren ließ. Ich war sehr naiv und sehr bedürftig ohne mit dies zuzugestehen und dadurch auch einfach zu beeinflussen.

Pro Wald: Aus strafrechtlicher Sicht sind die Ereignisse heute verjährt, Du hast den Weg in ein "bürgerliches Leben" eingeschlagen, kann man das so sagen?

Adrian Oertli: Ich bin heute 41 Jahre alt, Vater zweier Kinder und lebe mein Leben, wie ich es mir aussuche. Ich will meine innere Vielfalt und Widersprüchlichkeit nicht mehr in Schubladen pressen.

Pro Wald: Mit Gruppendynamiken rund um Gewalt befasst Du Dich inzwischen beruflich. Wie ist es dazu gekommen?

Adrian Oertli: Was meinen beruflichen Werdegang betrifft, habe ich Masterabschlüsse in Psychotherapie und Psychologie mit den Nebenfächern Psychopathologie und Kriminologie, arbeite heute als Psychotherapeut in Zürich und bin Experte im ‚Radicalisation Awareness Networks‘ der Europäischen Union. Dadurch habe ich ein tiefgehendes theoretisches und praktisches Wissen über Gruppenprozesse und soziale Beeinflussung. Dieses war sicherlich sehr hilfreich für mich, um meine eigene Biografie besser zu verstehen.

Pro Wald: Die Waldbesetzer:innen im Dannenröder Forst haben ihre Gemeinschaft als hierarchiefreies „Utopia“ betrachtet, in dem jeder Mensch wertgeschätzt und respektiert wird, sich mit seinen Fähig- und Fertigkeiten einbringen kann und autonome Entscheidung treffen darf. Das klingt erstmal schön. Welchen Blick hast Du mit deinem beruflichen und persönlichen Hintergrund darauf?

Adrian Oertli: Das hört sich einfach zu schön an, um wahr zu sein. Nur gibt es eben auch psychische und physische Gewalt bei den Waldaktivisten. Wenn man dieser gegenüber tolerant auftritt, dann gewinnen die Gewaltbereiten schnell die Überhand. Herrschaftsfreie Räume sind nur mit klaren Konzepten, wie man Gewalt begegnet, möglich. Für gewaltbereite Kräfte sind solche "Utopien" natürlich ein gefundenes Fressen. Wäre ich heute noch ein Linksextremist, würde ich mich in einer solchen Bewegung sehr wohl fühlen.

Pro Wald: Wo genau siehst Du psychische und physische Gewalt in der Gemeinschaft der Waldbesetzer:innen.

Adrian Oertli: Vordergründig sind da natürlich die Aktionen gegen die Polizei oder andere Kräfte der Abholzung zu nennen. Am schlimmsten finde ich angebrachte Metallstifte in Bäumen, die die Waldarbeiter hätten verletzen können. Hinzu kommen Konflikte, Machtspiele und schwierige Persönlichkeiten innerhalb der Gemeinschaft. So etwas gibt es überall und muss überhaupt kein Versagen darstellen, sondern es ist einfach menschlich. Wirklich gefährlich wird es, wenn man dies innerhalb der Gruppe nicht mehr thematisieren darf. So hat es wegen gewalttätiger oder diskussionswürdiger Aktionen im Zusammenhang mit dem Dannenröder Forst seitens der Aktivisten in meinen Augen zu wenig Distanzierung von diesen gegeben. Auch die ganze Anonymisierung und Vermummung von Aktivisten ist in seiner Symbolik nicht mit konsequenter Gewaltfreiheit zu vereinbaren.
 

Pro Wald: Welchen über den Schutz vor behördlicher Verfolgung hinausgehenden Zweck haben Vermummung und Waldnamen der Aktivist:innen?

Adrian Oertli: Menschen ihre eigene Identität zu nehmen und sie auf einen neuen Namen zu taufen ist in verschiedenen sektenartigen Gruppen oder Armeen ein altbekanntes Muster, um Menschen gefügig zu machen.

Pro Wald: Wie funktioniert das genau?

Adrian Oertli: Man arbeitet mit einer Spaltung der Persönlichkeit, indem man einen ‚guten‘ Anteil der Personen suggeriert, der nichts hinterfragt und mit allen Mitteln in den Krieg ‚gegen das System‘ einsteigt. Und trennt diesen von einem ‚schlechten‘ Teil, der Zweifel an der Effektivität und eine natürliche Abneigung gegenüber Gewaltanwendung hat. Oft wird auch suggeriert, dass der ‚schlechte‘ Anteil eine Folge der erzieherischen Manipulationen des ‚Systems‘ sei. Der ‚gute‘ Teil sei hingegen befreiter, authentischer und emanzipierter.

Pro Wald: ‚Gut‘ ist also die neue Identität, die den Krieg gegen das System will, und ‚schlecht‘ das alte Ich, das Zweifel hat und Gewalt ablehnt?

Adrian Oertli: Genau. Das Heilsversprechen lautet, dass das bestehende ‚System‘ – also unsere als Staat organisierte Gemeinschaft  – vernichtet werden müsse. Danach werde sich alle Probleme wie von selbst lösen und alles werde gut. Das klingt etwas bescheuert – was damit zu tun hat, dass es auch wirklich bescheuert ist. Allein dadurch, dass es plötzlich alle in der Gemeinschaft glauben, wird es für die einzelnen Mitglieder trotzdem überzeugend.

Pro Wald: Warum sind wir so leicht zu manipulieren?

Adrian Oertli: Wir Menschen sind so sehr soziale Wesen, dass wir gerne unseren eigenen Verstand abgeben, um einer Gruppe zugehörig zu sein. Dies ist so sehr in uns verwurzelt, da wir schon als Frühmenschen außerhalb unserer Gruppe nicht überleben konnten.

Pro Wald: Welches Interesse haben sektenartige Gemeinschaften daran, ihre Mitglieder mittels neuen Namen und Masken von der Außenwelt abzugrenzen, und warum spielen die Mitglieder dabei mit?

Adrian Oertli: Man kontrolliert Menschen dadurch und isoliert sie erfolgreich in einer abgeschotteten und kontrollierten Gruppe, in dem man ihnen einredet, dass die Außenwelt böse ist und ihnen nur schaden will. Eine Maske zu tragen und die Anonymisierung dient dazu, Menschen zu isolieren – selbst vor solchen Menschen, die eigentlich dankbar und unterstützend zur Seite stehen würden. Das Wir-Gegen-Sie-Denken ist das Ergebnis einer paranoiden Angst vor der "normalen" Gesellschaft.

Pro Wald: "Böse" sind also nicht nur die Polizei, der Kapitalismus und der Staat, sondern im Extremfall alle außerhalb der engen Kern-Gemeinschaft - also durchaus auch Umweltschützer, die älter sind oder die ansonsten eine andere politischen Einstellung haben?

Adrian Oertli: Genau, man glaubt, dass man nur noch innerhalb der engen Gruppe auf Unterstützung hoffen kann. Man merkt zwar, dass man nicht so richtig satt wird, glaubt aber, dass es ‚draußen‘ noch schlimmer ist. Das kann durchaus so weit führen, dass andere Umweltschützer als hinterlistige Verräter dargestellt und empfunden werden können.

Pro Wald: Ist das jetzt allgemein gesprochen oder ganz konkret auf den Dannenröder Forst bezogen?

Adrian Oertli: Das ist allgemein gesprochen. Ob es im Dannenröder Forst so ist oder erste Anzeichen dafür bestehen, kann ich von außen nicht beurteilen. Wenn die Gemeinschaft der Aktivisten tatsächlich subtil-totalitäre Züge beinhielte, bräuchte man Aussteiger, die sich trauen, über das Innenleben zu sprechen. Die gibt es aber recht selten, weil es üblich ist, dass Aussteiger aus solchen Strukturen als Feinde dargestellt werden, die die Bewegung in Verruf ziehen. Es gilt ein sehr spießbürgerliches Dogma von "was in der Familie schiefgeht, bleibt in der Familie". Wer Probleme öffentlich macht, ist der Feind.

Pro Wald: Wir halten fest, dass diese Befürchtungen über strukturelle Gewalt im Innenleben der Gemeinschaft bislang auf Spekulationen beruhen und dass physische Gewalt bislang nicht zu den charakteristischen Merkmalen der Baumbesetzer im Dannenröder Forst gehört. Ist die Bezeichnung Ökoterroristen in Bezug auf die Waldbesetzer im Dannenröder Forst daher nicht maßlos übertrieben und diskreditiert das Engagement der Aktivisti? Ist es nicht eine willkommene Ablenkung, um unseren gewohnten Lebensstil hin zu weniger Individualverkehr, weniger Flugreisen, weniger oder keinem Fleischkonsum und Schutz der Wälder nicht infrage stellen zu müssen?

Adrian Oertli: Ja, der mediale und gesellschaftliche Fokus auf das Verhalten der Waldbesetzer ist unverhältnismäßig vor dem Hintergrund der grassierenden ökologischen Krise, in der wir uns befinden. Der Klimawandel und unser Umgang mit der Natur sollte unser Hauptfokus sein. Ich verstehe jedoch, dass der Vorwurf des Extremismus von außen stark an die Bewegung herangetragen wird, da sie sich in ihrem Inneren noch zu wenig mit dieser Problematik auseinandersetzt.

Adrian Oertli: Ja, der mediale und gesellschaftliche Fokus auf das Verhalten der Waldbesetzer ist unverhältnismäßig vor dem Hintergrund der grassierenden ökologischen Krise, in der wir uns befinden. Der Klimawandel und unser Umgang mit der Natur sollte unser Hauptfokus sein. Ich verstehe jedoch, dass der Vorwurf des Extremismus von außen stark an die Bewegung herangetragen wird, da sie sich in ihrem Inneren noch zu wenig mit dieser Problematik auseinandersetzt.

Pro Wald: Wie machen das andere Gemeinschaften?

Adrian Oertli: Die christliche Community hat schon lange Sektenberatungsstellen etabliert, um den Gefahren von fundamentalistischen Auswüchsen innerhalb des christlichen Milieus zu begegnen. Etwas ähnliches wünsche ich mir für die Umweltbewegung, damit Missstände in den eigenen Reihen effektiver angegangen werden können. Dies würde wohl nicht verhindern, dass manche Interessensgruppen den Vorwurf des Ökoterrorismus fallen lassen. Aber man könnte eigenes an Vertrauen bei weiten Teilen der Bevölkerung aufbauen oder wieder zurückgewinnen. Das wäre essenziell für wirkliche Erfolge.

Pro Wald: Es geht also nicht allein darum, das Innenleben der Gemeinschaft krisensicher zu machen, sondern auch, eine Botschaft an die Außenwelt zu senden. Bislang fehlt tatsächlich ein öffentliches Bekenntnis zur Gewaltfreiheit im zivilen Ungehorsam. Offenbar auch deshalb, weil sich die Aktivisti durch äußeren Druck nicht ‚spalten lassen‘ wollen.

Adrian Oertli: Die Begründung "Wir lassen uns nicht spalten" ist ein totaler Witz! Nicht Gewalt auszuschließen führt zur Spaltung, sondern die Gewalt selbst – im Individuum und mit dem Gegenüber. Es gibt eben nicht nur physische, sondern auch psychische Gewalt. Die politische Kultur insgesamt kränkelt sehr stark an gegenseitigem Mobbing, Diffamierungen und der Unfähigkeit, innere Konflikte respektvoll zu lösen. Bislang wird Gewalt gegen die Polizei in der Gemeinschaft der Danni-Besetzer zumindest toleriert, Polizeibeamte werden entmenschlicht. Es gibt Überschneidungen mit der linksextremistischen Bewegung, in der auch Gewalt gegen Rechte als legitim betrachtet wird. Als Rechte können dabei jedoch nicht nur Neonazis, sondern so ziemlich alle bezeichnet werden, die keine marxistische oder anarchistische Ideologie vertreten.

Pro Wald: Eine unterstellte Toleranz von physischer Gewalt der Aktivisti ist noch keine physische Gewalt. Bislang haben wir so gut wie keine physische Gewalt von Aktivist:innen gegen Polizisten oder Waldarbeiter erlebt - umgekehrt hingegen schon. Selbst die von Dir genannten Metallstifte in den Bäumen dienten offensichtlich nicht dazu, Waldarbeiter zu verletzen, sonst wären diese nicht zuvor gewarnt worden. Oder liege ich mit der Einschätzung falsch?

Adrian Oertli: Ich teile dieser Einschätzung aufgrund der Informationen, die mir bekannt sind. Bin aber jedoch nicht vor Ort und kann diesbezüglich keine fundierte Stellungnahme abgeben.

Pro Wald: Hätte es mehr physische Gewalt gegen Polizisten gegeben, dann hättest Du es mit Sicherheit erfahren – die Polizeipressestellen arbeiten hier sehr zuverlässig. Wir kommen zurück zu der von Dir angenommenen strukturellen-psychischen Gewalt im Innenverhältnis der Gemeinschaft der Aktivisti. Warum hältst Du das hierarchiefreie "Utopia" der Waldbesetzer:innen für eine selbstverleugnende Illusion?

Adrian Oertli:
Dem liegt die Erkenntnis zugrunde, dass es in gesunden Gemeinschaften immer Konflikte gibt und geben muss. Als Reaktion darauf, dass Gewalt immer zu Machtstrukturen führt, hat unsere Gesellschaft den Rechtsstaat mit Gewaltenteilung entwickelt.

Gemeinschaften, die unser Staatswesen und dessen Prinzipien ablehnen, jedoch selbst kein eigenes griffiges Konzept haben, wie sie gewaltbereiten Kräfte im Inneren begegnen, sind extrem anfällig dafür, dass Gewalt nach und nach die Oberhand gewinnt und tonangebend wird. Formale Hierarchien abzuschaffen führt erfahrungsgemäß zu neuen, informellen Hierarchien, wo oft die besten Mobber den größten Einfluss gewinnen – ob mit oder ohne Maske im Gesicht. Das Zurschaustellen von absoluter Harmonie nach Außen ist ein sichtbares Anzeichen dafür, dass Menschen effizient zum Schweigen gebracht werden. Dies ist einfach ein Erfahrungswert aus meiner persönlichen Biografie. Aber vielleicht bin ich da auch zu misstrauisch.

Pro Wald: Du sagst, dass extremistische Unterwanderung koordiniert und auf höchstem Niveau passieren. Wie kann ich mir das konkret vorstellen?

Adrian Oertli: Man schafft ein Klima von Misstrauen untereinander und stellt jeden unter Generalverdacht, ein gekaufter Spitzel oder rechtsextremer Unterwanderer zu sein. Man gewinnt Kontrolle über offizielle externe und interne Kommunikationskanäle und schaut, dass kritische Stimmen zum Schweigen gebracht und diffamiert werden. Gehorsam wird belohnt und alles Kritische geahndet. Dies begleitet mit theoretischer Indoktrination mit klarem Schwarz-Weiß-Denken, dass der Rechtsstaat ein korruptes System sei, dem man nicht vertrauen dürfe.

Pro Wald: In welcher Form erfolgen in vermeintlich hierarchiefreien Systemen Belohnungen und Bestrafungen?

Adrian Oertli: Während sich das Gefäß basisdemokratisch gibt, werden in hierarchisch organisierten Geheimzirkeln illegale Aktionen und strategisches Vorgehen geplant. Belohnung und Bestrafung geschieht dann mehr oder weniger subtil, indem man Anpassung mit Anerkennung und Kritik mit Ablehnung bis hin zum Ausschluss straft. Wer etwa Aktionen in Frage stellt, boykottiert den reibungslosen Ablauf. Er sieht sich schnell dem Vorwurf ausgesetzt, ein zu großes Ego zu haben und nicht gruppenfähig zu sein.

Pro Wald: Die Waldbesetzer sind fast alle unter 25 Jahre alt, viele auch unter 20. Wie können sie eine mögliche extremistische Unterwanderung erkennen und sich schützen?

Adrian Oertli: Ich empfehle ihnen, sich mit Manipulationstechniken auseinanderzusetzen. Sektenberatungsstellen bieten zum Beispiel kompetente Hilfe an, wie man diese erkennt, aber auch Gewaltpräventionsstellen haben viel Erfahrung mit solchen Phänomenen. Größtmögliche Transparenz bei internen Konflikten ist sicherlich eine sinnvolle Strategie, um Unterwanderung zu verhindern. Man ist immer nur so krank, wie die Dinge, die man zu verheimlichen versucht.

Pro Wald: Die Empfehlung, eine Sektenberatungsstelle aufzusuchen, würde voraussichtlich als herablassende Unterstellung, eine Sekte zu sein, wahrgenommen werden und Abwehrreaktionen hervorrufen. Wie kann die Klimagerechtigkeitsbewegung aus sich heraus eine Strategie entwickeln, und was kann externe Expertise beisteuern?

Adrian Oertli: Sie können sich auch selbst das Wissen erarbeiten, wie Sekten funktionieren, etwa über frei zugängliche Online-Ressourcen.

Pro Wald: Wenn extremistische Unterwanderung hochprofessionell funktioniert, dann erscheint auch professionelle Hilfe angebracht, diese abzuwehren. Ist ein Verweis auf Internetseiten da nicht zu wenig?

Adrian Oertli: Eigene Schwächen einzugestehen und um Unterstützung zu bitten, ist etwas sehr Revolutionäres. Zuhören und Lernen ist genau das, was wir alle mehr brauchen. Wem Internetseiten nicht reichen, der kann sich auch direkt an mich wenden. Ich gehe gerne auf Fragen ein oder empfehle andere Anlaufstellen.

Pro Wald: Nun denn, hoffen wir, dass unser Gespräch gehört und gelesen wird. Du hast als Schlusswort jetzt noch die Gelegenheit, Dich direkt an die Aktivisti zu wenden. Was rätst Du ihnen?

Adrian Oertli: Nehmt die Masken ab. Zeigt Euer Gesicht. Macht uns alle unsere kollektive Verletzbarkeit bewusst, indem Ihr in jedem Moment Verletzbarkeit zelebriert. Nehmt klar Stellung gegenüber jeder Form von Gewalt. Distanziert Euch vor jeglichem Freund-Feind-Denken. Sucht immer nach größtmöglicher Verbindung in alle Richtungen. Öffnet einen freien Debattenraum. Ehrt Eure Wurzeln, und lernt von Erfahrungen Euer Ältesten. Vertraut ins Vertrauen. Sagt die Wahrheit und handelt ihr entsprechend. Stellt Euch radikal jeglicher Gewalt entgegen, und entblößt Euren Schmerz über das, was die kollektive Gewalt im Großen und Kleinen Tag für Tag anrichtet. Fürchtet Euren Schmerz nicht, sondern vertraut in die transformative Kraft der Offenlegung des Schmerzes. Schenkt Eurem Gegenüber die Zumutung, dass man von ihm erwartet, Verantwortung für das Leben zu übernehmen. Verweigert Euch dem Dogma, dass wir unabhängig voneinander existieren können.