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"Massive Öko-Konflikte sind unvermeidbar"

"Die Klimakrise ist die kleinere Katastrophe" (Teil 3 von 3)

 

Pro Wald: Wir stehen also vor einem doppelten Konflikt in der Landnutzung.

Matthias Glaubrecht: Eigentlich sogar einem dreifachen: Erstens brauchen wir global mehr Flächen für Landwirtschaft, um die steigende Weltbevölkerung zu ernähren. Zweitens wollen wir gleichzeitig bislang wirtschaftlich genutzte Flächen für den Naturschutz und die Biodiversität stilllegen. Aber diese Flächen brauchen wir wiederum für die Energie, insbesondere für die Stromgewinnung, denn wenn wir die Elektromobilität und die Digitalisierung mit digitalen Arbeitsplätzen mit intensiver Internetnutzung etwa bei Videokonferenzen und E-Learning ausbauen wollen, geht das nun einmal nur mit mehr Strom.

Pro Wald: Was ist die Lösung?

Matthias Glaubrecht: Dieses Problem können wir hier nicht mal eben schnell lösen, aber wir müssen es zumindest einmal klar benennen. Denn das Besondere an diesem Problem ist, dass es sich gerade auch den Menschen mit einer ökologischen Grundeinstellung stellt und es hier zwangsläufig zu Konflikten kommen wird. Wir können nicht beides haben: Den Ausbau von Energie – und sei es erneuerbare – fordern und gleichzeitig die Landflächen für den Erhalt der Natur und der Artenflächen schützen. Wir müssen klar benennen, ob wir eine bewaldete Fläche möglichst unberührt für die Natur belassen wollen, so wie die EU-Kommission es anstrebt. Oder ob wir sie für erneuerbare Energien nutzen wollen, wie dies die Bundesregierung und auch die Grünen bevorzugen.

Die Frage von Ackerland-Vernichtung stellt sich in diesem Zusammenhang auch, da die gerodeten Flächen wieder aufgeforstet werden müssen. Und dafür kommen eigentlich nur landwirtschaftliche Flächen in Betracht.

Pro Wald: Wie wäre es mit weniger Energie verbrauchen?

Matthias Glaubrecht: Ganz genau. Worüber wir seltsamerweise überhaupt nicht reden, ist, dass wir Strom sparen müssen. Und das ist weit weniger blauäugig als weiterhin am Glauben festhalten zu wollen, wir könnten es uns leisten, unsere Lebensweise mit einer immer weiter expandierenden Wirtschaft auf immer knapper werdendem Raum beibehalten und dabei auch noch die Biodiversität retten zu können. Das gilt nicht nur in Deutschland, sondern das gilt global bei einer Bevölkerung, die zwar bei uns abnimmt, aber weltweit weiterhin rasant wächst. Es kommen weltweit jedes Jahr 80 Millionen Menschen hinzu – das ist die Bevölkerungszahl Deutschlands. Wenn sich die Entwicklung weiter fortsetzt, wird die Weltbevölkerung von heute 7,8 Milliarden bis Ende des Jahrhunderts auf 11 Milliarden Menschen wachsen – und diese Menschen müssen alle ernährt und mit Energie versorgt werden.

Gleichzeitig wollen wir zuerst 30, dann 50 Prozent der Erdfläche für die Natur reservieren. Wir laufen also in ganz erhebliche, miteinander kaum zu vereinbarende Ziel-Konflikte. Deswegen ist das Artensterben das große Zukunftsproblem, das wir im 21. Jahrhundert lösen müssen. Die Klimaerwärmung ist dabei das kleinere Problem.

Pro Wald: Warum sind die sich gegenseitig ausschließenden Ziele nicht Gegenstand einer breiten öffentlichen Debatte?

Matthias Glaubrecht: Wir befinden uns gewissermaßen alle in einem Auto, das auf einen Baum zurast. Ein Teil der Menschheit transportieren wir dabei allerdings im Kofferraum mit, er hat kein Mitspracherecht, während wir uns vorne auf dem Fahrer- und Beifahrersitz darüber streiten, welche Musik wir im Autoradio hören wollen. Ja, also warum reden wir nicht darüber, dass wir uns in großer Gefahr befinden? Und warum thematisieren wir nicht, dass der eine Teil von uns nicht mitentscheiden kann, während es der andere Teil nicht will?

Pro Wald: Genau, warum?

Matthias Glaubrecht: Weil wir vielleicht doch nicht Homo sapiens – der vermeintlich weise Mensch – sind. Wir Menschen haben durch unsere evolutionäre Prägung ein erhebliches Problem, uns als nachhaltig wirtschaftende Menschen auf diesem Planeten zu bewegen. Dafür waren wir bislang als sehr junge, gerade einmal 300.000 Jahre alte Art mit unserer angestammten Pionier- und Plünderer-Mentalität zu erfolgreich mit der Strategie, erst alle Ressourcen auszubeuten und dann weiterzuziehen. Dagegen haben wir es nicht gelernt, auch einmal kürzer zu treten und wirklich nachhaltig zu leben. Aus diesem Grund wollen wir nicht wahrhaben, was eigentlich logisch ist: Dass auf einem begrenzten Planeten kein unbegrenztes Wachstum möglich ist.

Pro Wald: Von unserem genetischen Erbe sind wir also schlecht auf Krisensituation wie diese vorbereitet. Aber was ist mit unserer Kultur?

Matthias Glaubrecht: Meine Hoffnung kann nur sein, dass es uns gelingt, durch kumulative kulturelle Evolution eine biologische Lösung, die die Natur für uns bereithält, abzuwenden. Die biologische Lösung für Tierarten, die sich exponentiell vermehren, ohne ihre Population an die Ressourcen anzupassen, besteht in einem Massensterben. Beim Menschen würde das Krieg, Chaos und Krankheit bedeuten. Viele Kriege, die wir heute schon führen, sind Ressourcen- und Verteilungskriege – etwa in Äthiopien und dem Sudan, da geht es nicht zuletzt um Wasser. Doch statt diese Probleme in den Griff zu bekommen, sind wir nicht einmal in der Lage, diese zu erfassen.

Der Menschen tut sich sehr schwer, Zukunftsprobleme anzugehen, er ist darauf gepolt, momentane Probleme zu lösen wie: ‚Was esse ich heute Abend?‘ und vielleicht noch: ‚Was gebe ich meinen Kindern morgen‘. Aber für eine Antwort auf die Frage: ‚Wie werden meine Enkelkinder übermorgen leben?‘ reichen weder unsere Vorstellungskraft noch ein Großteil unseres rein biologischen Programmes.

Pro Wald: Warum ist in Ihren Augen die Biodiversitätskrise schwerwiegender als die Klimakrise?

Matthias Glaubrecht: Wenn wir von den fossilen Brennstoffen abgehen, dann haben wir die Chance, die klimatischen Veränderungen zumindest teilweise wieder zurückdrehen zu können. Die Klimakrise wird uns über Jahre und Jahrzehnte, vielleicht über das kommende Jahrhundert beschäftigen. Aber sie ist bei weitem keine, die eine so nachhaltige Wirkung haben wird wie das massenhafte Auslöschen von Arten. Populationen und Arten verschwinden und sind dann weg – und zwar definitiv und für immer. Deswegen rede ich in meinem Buch vom "Ende der Evolution" – jener, wie wir sie kennen. Nach dem Aussterben der Dinosaurier und dem Verlust der Artenvielfalt von 70 bis 80 Prozent beim letzten Massensterben nach dem Ende der Kreidezeit vor 66 Millionen Jahren haben wir zehn bis 15 Millionen Jahre gebraucht, bis sich im Eozän die Biodiversität wieder davon erholt hat. Neue Arten brauchen zur Entstehung hunderttausende von Jahren oder gar Jahrmillionen. Diese Zeit haben wir nicht!

Pro Wald: Welche Auswirkungen wird das haben?

Matthias Glaubrecht: Wenn wir Arten im großen Stil vernichten, dann beeinträchtigen wir die Funktionalität der gesamten Biosphäre. Das bedeutet, dass wir unsere Ernährung und Ernährungssicherheit von der Erdbodenqualität über das Wasser, die Vegetation und Tierwelt bis hin zur Luft gefährden. Damit setzen wir unser eigenes Überleben aufs Spiel. Das ist ein viel größeres Problem als die Klimaveränderung, da klimatische Veränderungen zwischen Polen hin und her pendeln und sich ein neues Verhältnis im Laufe der Zeit wieder herstellt. Wir fokussieren im Augenblick auf das völlig falsche Problem, oder anders gesagt: Wir sind auf einem Auge blind.

Pro Wald: Was sind die Gründe für die Biodiversitätskrise?

Matthias Glaubrecht: Die mit Abstand wichtigste Ursache für die Biodiversitätskrise darin besteht, dass wir Menschen durch unsere expansive Landnutzung Tiere aus ihren Lebensräumen verdrängen. Motto: Regenwald fällt – Palmölplantage entsteht. Allein die Verdrängung der Tiere aus ihren Habitaten ist zu zwei Dritteln für die Biodiversitätskrise verantwortlich. Der zweitwichtigste Faktor liegt in der menschlichen Nutzung , etwa durch die Jagd und ihre hässliche Schwester, die Wilderei, aber auch durch die industrielle Fischerei: Wir plündern beispielsweise seit Jahrzehnten die Meere in der Größenordnung von 80 Millionen Tonnen pro Jahr weltweit. Es folgen Umweltgifte, die wir zu Beginn des Gesprächs schon angesprochen haben, und schließlich die Verdrängung natürlicher Populationen durch invasive Arten.

Pro Wald: Ist die Klimakrise mitverantwortlich für die Biodiversitätskrise? Sterben also Arten aus, weil sie mit den geänderten klimatischen Bedingungen nicht mehr zurechtkommen?

Matthias Glaubrecht: Nein, das ist bislang eher in Ausnahmefällen festzustellen. Wir kennen die genannten vier Hauptgründe für den Biodiversitätsverlust – die klimatischen Veränderungen zählen jedoch nicht dazu. Das Auftauen der Permafrostböden und auch das Abschmelzen der Gletscher ist zwar eine große Gefahr und kann den Klimawandel in der Tat beschleunigen, doch selbst dies würde noch keine Biodiversität in dem Maße vernichten, wie wir es beobachten.

Pro Wald: Sie nennen die Jagd als zweitwichtigsten Grund für die Biodiversitätskrise. Viele Jäger sind jedoch davon überzeugt, den Wald und die Natur nicht zu zerstören, sondern – im Gegenteil – zu schützen. Dadurch, dass sie durch Abschüsse den Wildbestand verringern, werde verhindert, dass Wild sämtliche nachwachsenden Bäume zerstört. Sind in unseren heutigen Wäldern Jäger tatsächlich das Problem, oder sind sie die Lösung?

Matthias Glaubrecht: Jagd und Wilderei haben hierzulande eine viel geringere Dimension als in den meisten anderen Regionen der Erde, gerade den Tropen, wo sie dem Nahrungserwerb dienen. Dennoch müssen wir auch die Jagd bei uns kritisch betrachten, denn die Jäger schaffen sich hierzulande überhaupt erst das Verbissproblem, das sie dann kontrollieren wollen: Sie züchten sich zum Verdruss vieler Naturschützer in ihren Revieren große Reh-, Rot- und Schalenwildbestände heran. Da wir in vielen unserer Wäldern keine oder zu wenige Raubtiere haben, kann sich die Artengemeinschaft hier nicht selbst regulieren, also sieht sich der Jäger in der Pflicht, dies zu übernehmen. Dass seit einigen Jahren wieder Raubtiere wie etwa der Wolf zurückkehren, obwohl sich die Anzahl der zusammenhängenden Waldgebiete seit seinem Aussterben in Deutschland noch vermindert hat, hängt unmittelbar mit den hohen  Wildbeständen zusammen. Ohne diese hätten sich die Rudel nicht vom Osten her ausbreiten können.

Pro Wald: Wie verändern sich Wälder, wenn Raubtiere dort heimisch werden?

Matthias Glaubrecht: Experimente in nordamerikanischen Nationalparks haben gezeigt, dass die Verbissschäden an jungen Bäumen zurückgehen, wenn es Räuber im Wald gibt. Die Raubtiere müssen nicht einmal auf Beutezug sein, es reicht schon aus, dass das Schalenwild weiß, dass sie da sind.

Dann ändert es sein Verhalten, bleibt länger in Deckung und äst weniger an den Waldrändern oder Jungpflanzen, sodass Wald wieder nachwachsen kann. Da es bei uns an Räubern mangelt und Schalenwild im Überfluss vorhanden ist, haben wir keine natürliche Artenzusammensetzung und Artengemeinschaft mehr.

Pro Wald: Welche Voraussetzungen müssen gegeben sein, damit sich Wälder selbst regulieren können?

Matthias Glaubrecht: Die Größe ist sehr wichtig, wenn es darum geht, ob Raubtiere einen Wald besiedeln können. Für die Artenvielfalt spielt zudem der Zusammenhang zwischen den einzelnen möglichst naturbelassenen Gebieten, die ich bei der Inselbiogeografie bereits erwähnt habe, eine entscheidende Rolle. Der Reinhardswald etwa ist so ein Trittstein, der hessische, bayerische und baden-württembergische Waldregionen miteinander verbindet. Von Pfälzer Wald über die großen Waldregionen in Hessen, vom Bayerischen Wald bis zum Harz ziehen sich Grünachsen durch Deutschland, die wir brauchen, wenn wir etwa den Luchs wiederansiedeln wollen. Das heißt, wie brauchen möglichst viele Trittsteine als Vernetzung insulärer Lebensräume.

Pro Wald: Welche Auswirkungen hat die Fragmentierung von Lebensräumen durch Bauprojekte in Wäldern?

Matthias Glaubrecht: Verkehrsachsen, die etwa vor dem Hintergrund der Windkraftanlagen kommen werden, führen dazu, dass Grünflächen zerschnitten werden. Das heißt, es besteht die Gefahr, dass vorhandene Trittsteine wegbrechen und deshalb auch die Wiederansiedelung des Luchses scheitern kann. Auf der A7 nördlich von Hamburg ist eine Wildbrücke gebaut worden, die Wild befähigen soll, von einem fragmentierten Waldgebiet ins andere zu wechseln. Eine einzige Brücke kostet einen zweistelligen Millionenbetrag. Das heißt, eine nachträgliche Vernetzung zerschnittener Achsen ist eine ganz schwierige und kostspielige Angelegenheit. Wir sollten uns deshalb sehr genau überlegen, ob wir die letzten Waldgebiete weiter zerschneiden, wie dies in der Vergangenheit hundertfach geschehen ist.

Pro Wald: Ein "Weiter so" scheint keine Option für Sie zu sein.

Matthias Glaubrecht: Nein, wir brauchen einen ökologischen Umbau unserer Wälder, die wir bislang als lukrative Forstgebiete verstanden haben und diese unter ökonomischen Gesichtspunkten gepflegt haben. Wir müssen zu einem anderen Naturverständnis kommen. In den meisten Wäldern fehlen Altholzbestände, also alte Bäume, die besonders viel CO2 speichern und zudem etwa über die Insektenvielfalt ökologisch sehr bedeutsam sind. Uns fehlt die natürliche Zusammensetzung der Arten, weil bestimmte ortsfremde Bäume schneller wachsen, gerodet und monetarisiert werden können.

Erst die ökonomischen Schäden durch Windbruch, Dürre und Borkenkäferbefall ließen bei vielen Waldbesitzern jüngst die Frage aufkommen, ob sie überhaupt die richtigen Bäume gepflanzt haben.

Wenn ich die Bäume pflanze, mit denen ich den meisten Profit machen kann, dann sind das keine ökologischen Erwägungen. Wenn ich einen Wald kultiviere, weil ich in erster Linie forstwirtschaftliche Interessen habe, werde ich das auf eine ganz andere Art und Weise tun, als wenn mir in erster Linie die Naturverträglichkeit am Herzen liegt – was übrigens nicht ausschließt, dass ich dennoch meine Euro aus ihm ziehen kann. Langfristig wird das unter sich verändernden Umweltbedingungen sogar besser und sicherer gelingen. Das gilt es zu verstehen!

Pro Wald: Mit Holz ließ sich in den vergangenen Jahren nur noch schwer Geld verdienen, die Preise sind in den Keller gegangen. Das dürfte ein wesentlicher Grund dafür sein, weshalb viele Waldbesitzer die Windkraft als neue Ertragsquelle ins Auge gefasst haben.

Matthias Glaubrecht: Und genau hier sehen wir die bereits angesprochene evolutionsbiologische Unfähigkeit des Menschen, weiter als bis heute Abend in die Zukunft zu planen. Natürlich sind die Prämien, die Energieversorger etwa Landwirten pro Windrad bezahlen, wenn sie dafür ihre Flächen zur Verfügung stellen, im Augenblick eine große Verlockung. Diese falschen Anreize bewirken aber gerade nicht den erforderlichen ökologischen Umbau unserer Wälder, sondern es ist eine Subvention für eine Art der erneuerbaren Energie auch an problematischen Standorten, die politisch gerade gewollt ist. Das muss man gegeneinander abwägen, was man natürlich nicht dem einzelnen Waldbesitzer, einer Kommune oder einem Bundesland überlassen sollte und auch nicht darf. Sondern das bedarf einer breiten, gesellschaftlich-demokratischen Diskussion. Eigentum verpflichtet – auch zur ökologischen Vernunft und nicht nur zum kurzsichtigen Gewinnstreben.

Pro Wald: Was sind dafür die Voraussetzungen?

Matthias Glaubrecht: Es ist nötig, dass wir erstens die Relevanz für uns und zweitens die Zusammenhänge verstehen. So wie wir den Umgang mit Covid19 gesamtgesellschaftlich diskutieren und wie das Vorgehen, was zu tun ist, zwischen Kommunen, Landesregierungen und der Bundesregierung abgestimmt ist oder zumindest über Sonderwege diskutiert wird, so muss das auch mit der Frage geschehen, wie wir mit unseren Wäldern umgehen wollen. Nur leider erfassen bislang viel zu wenige Menschen, wie elementar diese Frage für uns und unsere Nachkommen ist – und sind entsprechend zu wenig interessiert. Ich hoffe, es wird gelingen, dieses essenzielle Wissen zu vermitteln und dadurch das Interesse in der Bevölkerung zu wecken.

Pro Wald: Ein Hauptargument gegen Umweltschutz hier bei uns ist, dass der Raubbau an der Natur etwa im Amazonas ja viel schlimmer sei, und dass es daher ohnehin völlig egal sei, ob wir die Natur bei uns schützen oder nicht – also sollten wir im Zweifelsfall lieber der Wirtschaft den Vorrang lassen. Können wir gegen die globale Umweltzerstörung, gegen die Biodiversitäts- und die Klimakrise tatsächlich nichts ausrichten, da wir zu weit weg sind?

Matthias Glaubrecht: Wir beide und die Leser dieses Interviews sind diejenigen, die dazu beitragen, dass Bolsonaro die Wälder im Amazonas fällen lässt. Die eine Hälfte derer, die den Amazonas roden, sind Bauern, die in den Wald vordringen und durch Brandrodung dort leben, und die andere Hälfte sind große Agrarunternehmen, die dort gigantische Monokulturen errichten, um die Plantagen-Produkte anschließend auf dem Weltmarkt zu verkaufen – und zwar an uns.

Wir sind die Abnehmer des Soja-Tierfutters für unsere Nutztierhaltung für Biokraftstoffe, die wir unserem Benzin beimischen, und des Palmöls, das wir uns jeden Morgen als Bestandteil unserer geliebten Nutella auf unsere Brötchen schmieren. Palmöl, das inzwischen in unzähligen Lebensmitteln enthalten ist, ist ein riesiges Problem. Seine Anbauflächen haben sich in den vergangenen zwei, drei Jahrzehnten dramatisch ausgeweitet. Das heißt: Ja, natürlich können wir hier in Deutschland mit unserer Lebensweise und der Art, wie wir Wirtschaft betreiben, sehr massiv beeinflussen, ob wir weltweit Wälder verlieren.

Pro Wald: Das wird jetzt Viele überraschen. Warum sind wir uns unserer Verantwortung für die Regenwaldzerstörung nicht bewusst?

Matthias Glaubrecht: Ähnlich wie bei der Fokussierung auf die falschen Tierarten in der Roten Liste haben wir uns im Naturschutz sehr lange auf illegal gerodete Urwaldriesen und den aus ihnen hergestellten Tropenhölzer konzentriert. Wir haben dies als Hauptproblem für die Regenwaldzerstörung ausgemacht. Der Waldbau besteht jedoch nur zu einem Teil in der kommerziellen Verwertung des Holzes durch große Holzunternehmen. Es ist irreführend, wenn wir denken, mit irgendwelchen Ökosiegeln auf irgendeinem modischen Liegestuhl bei uns irgendetwas Wesentliches gegen den Raubbau in den tropischen Regenwäldern zu unternehmen. Es ist unsere eigene Landwirtschaft, die Sojaprodukte für die Viehaufzucht nachfragt, es ist unsere Ernährung, die massiv dazu beiträgt, dass Sie heute vor dem Landeanflug auf Singapur zuvor zwei volle Stunden über malaysische Monokulturplantagen einer ursprünglich westafrikanischen Palmenart, eben jene Ölpalme, fliegen. Diese Zusammenhänge mit unserer Lebensweise haben wir lange Zeit verkannt.

Pro Wald: Dient neben FSC-Siegeln also auch Bolsonaro dazu, unser ökologisches Gewissen zu beruhigen?

Matthias Glaubrecht: Natürlich, wir können Bolsonaro verantwortlich dafür machen, dass die Umwelt irreversibel geschädigt wird und unsere eigene Verantwortung dabei ausblenden. Und während wir uns über Bolsonaro empören, wird in Malaysia und in Indonesien gerade Regenwald in einer Größenordnung vernichtet, die hinsichtlich der Biodiversität noch katastrophaler ist als dies in Brasilien der Fall ist. Denn die Waldflächen in Indonesien sind kleiner, verinselter und weisen eine deutlich höhere Artenvielfalt auf als die großen, zusammenhängenden Waldgebiet des Amazonas. Wir verlieren in Borneo und auf anderen indonesischen Inseln sehr viel mehr Biodiversität als das bislang in Brasilien der Fall war. Dennoch starren alle auf Bolsonaro, statt nach Timor oder nach Sulawesi oder nach Neuguinea zu schauen, wo das im Augenblick massiv passiert. Ganz ähnlich ist es auch im südlichen Afrika. Insofern haben wir auch hier wieder das Problem der leider falschen Betrachtung, die dazu beiträgt, dass wir es erst merken werden, wenn es zu spät ist.

Pro Wald: Was kann die Politik tun?

Matthias Glaubrecht: Wir haben es über unsere politischen Vertreter auch deshalb in der Hand, den Raubbau im Regenwald zu ändern, weil etwa Bolsonaro mit der EU Abkommen schließen möchte. Diese würden es den großen brasilianischen Agrarkonzerne noch leichter machten, ihre Produkte nach Europa zu exportieren. Interessanterweise wird der Widerstand gegen Bolsonaro neuerdings in Brasilen ausgerechnet von der dortigen Agrarlobby befeuert, weil ihr Staatspräsident international wegen der Brandrodungen des Regenwaldes in die  Kritik geraten ist. Sie fürchten, dass wegen des schlechten Images ihres Staatschefs die Handelsverträge nicht zustande kommen – Verträge, die die Regenwaldabholzung noch beschleunigen würden.

Man könnte Bolsonaro fast schon dankbar sein, weil er die Schwächen des Systems so deutlich zutage fördert. Erst durch ihn sind Zusammenhänge zwischen unserer Vorliebe für Soja- und Palmöl-Produkte und der Abholzung des Regenwaldes offenbar geworden, die unbemerkt schon immer bestanden.

Pro Wald: Wenn Sie uns und unsere Landwirtschaft in die Haftung für den Sojaanbau nehmen, meinen Sie auch Veganer und Vegetarier, die sich ein Sojaschnitzel gönnen?

Matthias Glaubrecht: Ich spreche im Wesentlichen von unserer heimischen Vieh- und Fleischwirtschaft, die den Sojaanbau in den Tropen wesentlich forciert. Eine weitere große Rolle spielt die Erzeugung von Biofuel – also alles, was wir an Treibstoff aus Pflanzen gewinnen. Das wird ja zum Teil aus Energiepflanzen, die wir anbauen, gewonnen, und neben unserem Mais, den wir ja hauptsächlich für Silage und diese Bioenergie anbauen, wird dafür eben auch Soja im großen Stil verwendet. Es entsteht also gleich eine Dreifach-Speerspitze, die gegen den Wald gerichtet ist. Er wird erstens gerodet, um Soja für das Vieh anzubauen, zweitens, um Weideland für dieses Vieh zu gewinnen und drittens, um Bio-Kraftstoff zu produzieren.

Pro Wald: Der Schlüssel liegt also in unserem Konsumverhalten.

Matthias Glaubrecht: Das ist ein wesentlicher Faktor, ja. Wir müssen auch darüber diskutieren, dass wir unsere eigenen Probleme nicht in die ganze Welt exportieren, etwa indem wir hier Düngemittel und Pestizide und andere Gifte einschränken oder verbieten, es jedoch gestatten, dass landwirtschaftliche Erzeugnisse aus dem Ausland eingeführt werden, die in Entwicklungsländern auf die bei uns verbotene Weise hergestellt wurden. Diese Importe sollten wir nicht mehr zulassen. Durch unser Konsumverhalten können wir zudem dazu beitragen, dass Wald- und Naturflächen in Entwicklungsländern nicht für Industrieanlagen zerstört werden, die Dinge produzieren, die wir eigentlich nicht brauchen. Um wiederum diese Produktionsstätten zu ermöglichen – und nicht allein, um die wachsende Weltbevölkerung mit Strom zu versorgen – werden gigantische Staudämme gebaut.

Weltweit sind aktuell 3.500 Staudämme im Bau oder in Planung, und hinter vielen dieser Bauprojekte steht ein ökologisches Desaster. Abgesehen davon haben wir auch eine Vorbildfunktion, denn an unserer westlichen Lebensweise, ob sie jetzt nachhaltig ist oder nicht, im positiven wie im negativen, orientiert sich die aufwachsende Mittelschicht in Asien – etwa in Thailand, China, Laos und Vietnam, alles sehr bevölkerungsreiche Länder. Sich herauszureden und zu sagen, die Regenwälder sind halt in den Tropen, wir können nichts dafür, was dort passiert – damit kommen wir in der Tat nicht mehr sehr weit.

Pro Wald: Wie sollte der ideale Wald aussehen?

Matthias Glaubrecht: Der ideale Wald sollte den für seinen Standort aus ökologischer, nicht ökonomischer Perspektive richtigen Baumbestand haben. Die forstwirtschaftliche Nutzung von Holz sollte in unseren Wäldern in den Hintergrund rücken, die Biodiversität des Lebensraumes hingegen in den Vordergrund. So sollten sich für möglichst viele heimische Tiere geeignete Lebensräume entwickeln: Lebenswälder mit großem Artenreichtum.

Pro Wald: Sollte der Mensch überhaupt weiterhin regulierend in Wälder eingreifen?

Matthias Glaubrecht: Angesichts der Bevölkerungsentwicklung werden wir weltweit bald keine Regionen mehr haben, in die wir nicht mehr eingreifen – trotz 30:30-Ziel der EU. Ich glaube, dass wir in sehr vielen Regionen sehr massiv mit einer sehr intelligenten und dem Standort angemessenen Waldbewirtschaftung leben müssen. Dass wir zurück zu rein naturbelassenen Wäldern kommen werden, die ja Jahrhunderte brauchen, um wieder aufzuwachsen, kann ich mir nicht vorstellen. Stattdessen brauchen wir intelligente Waldlösungen, die aber immer den Stempel der Menschenhand tragen werden – so wie das schon immer war, seit wir auf der Welt aufgetaucht sind. Wir müssen versuchen, dieses Geflecht aus Jagd, forstwirtschaftlicher, energetischer und ästhetischer Nutzung unter einen Hut zu bekommen. Das ist eine viel größere Herausforderung als die Wälder sich selbst zu überlassen. Diese Utopie eines "Zurück zur Natur" wird auf einem zunehmend enger besiedelten Planeten nicht gelingen.

Das Video-Interview mit Evolutionsbiologe Matthias Glaubrecht