Zum Hauptinhalt springen

Der Reinhardswald (Nordhessen): Sturm im Märchenwald

Reihe "Bedrohte Wälder"

Ob wir dem nordhessischen Reinhardswald Dornröschen, Schneewittchen und Rotkäppchen zu verdanken haben? Vielleicht – denn zweifellos waren Jacob und Wilhelm Grimm inspiriert von der waldreichen Region um Kassel, wo die Brüder Anfang des 18. Jahrhunderts ihre Märchen gesammelt haben. Bis heute ist die mit rund 200 Millionen Quadratmetern größte zusammenhängende Waldfläche Hessens ein beeindruckendes und unvorstellbar schönes "Erholungsgebiet von herausragender Bedeutung" sowie "Schatzhaus der europäischen Wälder". Und ausgerechnet hier kommt es nun zum Konflikt zwischen zwei Gruppen, die ihn – so seltsam es klingt – beide retten wollen: Die einen, indem sie mitten hinein Dutzende knapp 250 Meter hohe Windkraftanlagen bauen wollen. Und die anderen, indem sie alles dafür tun, um genau dies zu verhindern. Pro Wald stellt den Reinhardswald, die umstrittenen Bauvorhaben und die Positionen der Umweltschützer:innen beider Lager vor.

Wie heißt der bedrohte Wald?

Reinhardswald. Ähnlich märchenhaft wie der Wald selbst ist die Legende, auf die sein Name zurückgeht: Es war einmal ein Graf namens Reinhard, der lebte vor langer, langer Zeit. Sein war das gesamte Land mit allen Dörfern und Ländereien zwischen Weser und Diemel. Doch er war ein leidenschaftlicher Spieler. Es wird nun berichtet, Graf Reinhard hätte mit dem Bischof von Paderborn um seine Besitztümer gewürfelt. Der Graf verlor – und ersann eine List, sein Eigentum dennoch behalten zu können: Er bat, noch ein letztes Mal aussäen und die Ernte einbringen zu dürfen, und der Bischof stimmte zu. Graf Reinhard aber säte kein Getreide – sondern Eicheln. Bis zur Ernte vergingen nun viele, viele Jahre, über die der Bischof schließlich verstarb. So kam der Reinhardswald nicht nur zu seinen Eichen, sondern auch zu seinem Namen.

Wo befindet er sich?

Er ist in der grünen, ruhigen, wenig besiedelten Nordspitze Hessens, im Dreiländereck zu Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen, im Landkreis Kassel zu finden und erstreckt sich in Mittelgebirgslage auf Höhen zwischen 200 und 472 Metern über dem Meeresspiegel. Die größten Städte in seiner Nähe sind Kassel im Süden und Göttingen im Osten des Waldes, beide rund 30 Kilometer entfernt.

Wie groß ist er?

Beim Reinhardswald handelt es sich um das größte zusammenhängende Waldgebiet Hessens. Es umfasst rund 200 Millionen Quadratmeter, was 20.000 Hektaren oder 200 Quadratkilometern entspricht – das ist knapp ein Prozent der gesamten Fläche Hessens. Der Reinhardswald bildet das Herzstück des insgesamt etwa doppelt so großen "Naturparks Reinhardswald", den das hessische Umweltministerium als "eine der schönsten Landschaften Deutschlands" bezeichnet. Der "Naturpark Reinhardswald" umfasst weitere bemerkenswerte Wälder, Schlösser, Ortschaften und auch andere wundervolle Landschaften. In diesem Waldsteckbrief geht es jedoch fast ausschließlich um den eigentlichen Reinhardswald.

Wem gehört er?

Der Reinhardswald gehört als Forstgutsbezirk dem Land Hessen und ist fast vollständig gemeindefreies Gebiet. Das bedeutet, dass anliegende Kommunen keine Hoheit besitzen und der oder die Forstamtsleiter:in hier quasi auch das Amt der Bürgermeister:in ausübt.

 Um was für eine Art Wald handelt es sich?

Um einen großartigen! Der Reinhardswald ist ein historischer, sehr alter Waldstandort. Er ist weit überwiegend Laubwald, der vor allem aus Eichen und Buchen besteht, sowie Mischwald. Diese Waldflächen machen etwa 85 Prozent seines Gesamtbaumbestandes aus. Die übrigen rund 15 Prozent bestehen aus Lärchen- und Fichten-Monokulturen. Insgesamt bietet der Reinhardswald sehr abwechslungsreiche Waldlandschaften, darunter Moore, Magerrasen, Heideflächen sowie Bach- und Waldwiesentäler. Neben Deutschlands erstem Friedwald finden sich dort mit dem touristisch nicht erschlossenen Urwald Wichmanessen sowie dem bekannten Urwald Sababurg auch die beiden ältesten hessischen Naturschutzgebiete.

Seine alten Buchen- und Eichenbestände, fantastischen Eichenalleen und zutiefst beeindruckenden, jahrhundertealten Einzelexemplare sind in internationalen Baum- und Waldbüchern abgedruckt und bilden in vielen Filmen wie "Lauf Junge, lauf", "Der Baum der Bäume" und "Ostwind" nicht nur die Kulisse, sondern spielen bisweilen gar Hauptrolle. Der Landschaftsrahmenplan Nordhessen weist den Reinhardswald als "Erholungsgebiet von herausragender Bedeutung" aus.

Wie alt ist er, und wie ist seine Geschichte?

Der Reinhardswald besteht seit mehr als 1.500 Jahren, die ersten Funde menschlicher Besiedlungen stammen gar aus der Steinzeit. Er bildet eine großflächige, bedeutsame Kulturlandschaft mit historischen Waldnutzungsformen: Bis heute erhalten sind neben Eichenalleen auch die weiten, stimmungsbildenden Hutewaldflächen - das sind wie Parklandschaften anmutende Waldgebiete mit nur vereinzelten, sehr alten und sehr kräftigen Bäumen, die durch die früher übliche Viehbeweidung in bestimmten Waldgebieten entstanden sind. Auch in dieser Ausdehnung bundesweit einzigartigen Wölb-Äcker sind hier zu finden. Diese regelmäßig gewellten Waldflächen sind auf einstigen Ackerflächen gewachsen, die die Bauern im Mittelalter mit nicht wendbaren Pflugscharen bearbeitet haben. Die "Hessische Niedersächsische Allgemeine" schreibt dazu: "Nirgendwo sonst in Deutschland ist eine derartige Kulturlandschaft mit Äckern, Kirchen- und Dorfstellen, Brenn-, Bach- und Glasöfenstellen einschließlich über hundert noch älterer Hügelgräber so geschlossen erhalten wie hier. Denn der Wald hat alles im Boden bewahrt."

Zum Schutze der Pilger entstand im 14. Jahrhundert die später weltweit als Dornröschenschloss bekannt gewordene Sababurg, zunächst allerdings noch ohne ihre heutigen Zwiebeltürme. An deren Fuße gründet Wilhelm IV. 1571 den bis heute bestehenden weitläufigen "Thiergarten", der damit der älteste europäische Tierpark sein dürfte. Nach dem Dreißigjährigen Krieg (1618 – 1648) breiten sich hunderte Wölfe in der Region aus. Das von der industriellen Revolution geprägte 19. Jahrhundert hinterlässt auch im Reinhardswald seine Spuren: Der Wolf wird wieder verdrängt und ausgerottet. Und die Bauern hören auf, ihre Nutztiere im Wald weiden zu lassen.

Anfang des 19. Jahrhunderts sammeln Jacob (1785 - 1863) und Wilhelm Grimm (1786 - 1859), die zu dieser Zeit in Kassel leben, die Erzählungen aus der Region und schmücken sie, inspiriert durch den weiten Reinhardswald mit seinen jahrhundertealten Eichen-, tiefen Buchen- und geheimnisvollen Farnwäldern zu dem aus, was wir heute als "Grimms Märchen" kennen. Ohne Reinhardswald sind Dornröschen, Rapunzel, Schneewittchen, Tischlein deck dich & Co. kaum vorstellbar. Deshalb gilt der gesamte Reinhardswald bis heute als Grimms Märchenwald.

Neben den Brüdern Grimm zählt Theodor Rocholl (1854 – 1933) zu den bekanntesten Künstlern, die der Reinhardswald maßgeblich inspiriert hat. Der Landschaftsmaler setzt sich erfolgreich dafür ein, dass uralte Eichen nicht gerodet werden, um Fichtenplantagen zu kultivieren. Auch dank seines Engagements stellt Kaiser Wilhelm II. im Jahr 1907 diesen Teil des Reinhardswaldes unter Schutz, der heute den Namen "Urwald Sababurg" trägt. Er ist Hessens ältestes Naturschutzgebiet.

Wie ist sein aktueller Zustand?

Da es sich um einen sehr großen Wald mit mehreren sehr unterschiedlichen Teilflächen handelt, lässt sich die Frage nicht pauschal beantworten. Grob unterscheiden lässt sich der weit überwiegende Laub- und Mischwaldbestand des Reinhardswaldes von den reinen Nadelwaldflächen.

Die Laub- und Mischwaldflächen sind weitgehend intakt, jedoch zeigen sich in einigen Buchenbeständen bereits Kronenauflichtungen: Je lichter die Kronen werden, desto anfälliger wird der restliche Baumbestand, da der Schutz vor direkter Sonneneinstrahlung fehlt. Ein überwiegend wirklich schlimmes Bild zeigt sich hingegen bei rund 3.000 Hektar großen vormaligen Fichten- und Lärchen-Monokulturen. Die Fichte galt bis vor wenigen Jahren als "Brotbaum" des Försters, die dem "Forstbetrieb" Wald die Einnahmen zu sichern hatte. Dass sie schnell wachsen und folglich schnell "geerntet" werden können, wog schwerer als die Tatsache, dass sie eigentlich fremd in den hiesigen Wald-Ökosystemen waren und es noch immer sind. So wurzeln sie nicht tief, brauchen viel Wasser und sind daher sehr anfällig für Extremwetterlagen, die wir in den vergangenen Jahren gehäuft erleben mussten.

Die beiden Orkane Friederike im Jahr 2018 und Eberhard im Jahr darauf sowie die gleichzeitig extrem trockenen Sommer mit nachfolgendem Borkenkäferbefall haben auf etwa 3.000 Hektar einen großen Teil der Fichten- und Lärchenbestände schwer beschädigt oder zerstört.

Diese Bereiche werden in der Forstwirtschaft als Kalamitätsflächen bezeichnet. Die vergleichsweise geringen Schäden beim Laubwaldbestand sowie die Verheerungen bei den Nadelhölzern zeigen deutlich, wie wichtiger ist es, diesen einzigartigen Wald keinen weiteren menschlichen Eingriffen auszusetzen, die seinen Zustand weiter destabilisieren.

Was sind seine Besonderheiten?

Seine besondere Rolle als Grimms Märchenwald haben wir bereits beschrieben. Im Reinhardswald sind aufgrund seiner uralten Historie und außergewöhnlichen Größe bis heute unzählige weitere Besonderheiten zu finden, von denen wir hier aus Platzgründen nur einen kleinen Teil berücksichtigen können.

Er umfasst viele Schutzgebiete verschiedener Kategorien, doch der weit über die deutschen Grenzen hinaus bekannte Urwald Sababurg spielt sicher eine herausragende Rolle: Von seinem uralten, lebenden und sterbenden Eichen- und Buchenbestand sind bis heute viele tausend Besucher jährlich tief beeindruckt. Auch Wissenschaftler, Baumsachverständige, Forstleute aus aller Welt und Mykologen finden dort in unvergleichlicher Dichte Anschauungs- und Forschungsmaterial. So wurden aufgrund des stehenden sowie am Boden liegenden Totholzanteils bereits 500 Pilzarten nachgewiesen – und noch einmal so viele Arten werden dort zusätzlich vermutet. Bekannt ist auch, dass ihn Insekten- und Pflanzenarten dicht besiedelt haben.

Der "Urwald von morgen" – ein vor wenigen Jahren auf knapp 13 Millionen Quadratmetern (entspricht 1.300 Hektar) Fläche erweitertes Naturwaldgebiet und damit eines der seltenen Wildnisgebiete in Hessen – befindet sich ebenfalls im Reinhardswald. Er ist Teil eines rund 4.000 Hektar (40 Millionen Quadratmeter) großen FFH-Gebietes mit weit mehr als 200 Jahre alten Buchenbeständen und Bachläufen. Zusätzlich machen ebenso alte Eichenwälder, Eichenalleen sowie Eichen- und Buchensolitäre den Reiz des Reinhardswaldes aus.

Laut Landschaftsrahmenplan Nordhessen ist der Reinhardswald in seiner Gesamtheit als Brut- und Rastgebiet von überregionaler Bedeutung. Er ist über eine Grünachse mit weiteren hessischen, bayerischen und baden-württembergischen Waldregionen in einer weitgehend industriefreien Umgebung von landschaftlich herausragendem Wert miteinander verknüpft. Somit ist er Teil eines sehr weiträumigen Lebens- und Naturraumes und bietet neben unzähligen gefährdeten und sehr gefährdeten Arten wie Bechsteinfledermäusen, vielen anderen Fledermausarten, Uhus, Rot- und Schwarzmilanen, Wespenbussarden, Baumfalken, Schwarzstörchen, Haselmäusen, Feuersalamandern, Wildkatzen, die hier bereits stabile Populationen bilden, und vielen, vielen weiteren Arten zunehmend auch wieder Wölfen und Luchsen das benötigte störungsarme und dabei weiträumige Habitat, das in Deutschland nur noch selten zu finden ist.

Längst gilt der Reinhardswald aufgrund seiner Artenvielfalt in Flora und Fauna als Hotspot der Biodiversität und "Schatzhaus der europäischen Wälder". Gerade vor dem Hintergrund des dramatischen Biodiversitätsverlusts allein in den vergangenen 30 Jahren ist er in seiner ungestörten, weitgehend unzerschnittenen Großräumigkeit ein unverzichtbarer, hoch schützenswerter Lebensraum.  Seine Quellen und Brunnen sind darüber hinaus wichtiger Trinkwasserlieferant für mehr als 50.000 Menschen der Region. Mit dem seit den 1960er-Jahren zunehmenden Tourismus hat sich die gesamte Region zunächst als "Märchenland der Brüder Grimm", später als "Grimm-Heimat Nordhessen" etabliert. Ein geradezu märchenhaftes Glück ist es, einen der seit Jahrhunderten hier freilebenden weißen Rothirsche in der Dämmerung auf einer Wiese inmitten des Waldes äsen zu sehen.

Der Reinhardswald ist bis auf zwei Menschen unbewohnt und zählt damit zu den am dünnsten besiedelten Gebieten Deutschlands. Es gibt in Deutschland kaum noch unzerschnittene und verkehrsarme Naturräume, die größer als 50 Millionen Quadratmeter sind – der Reinhardswald ist einer von ihnen. Denn abgesehen von einzelnen Straßen und Forstwegen zerteilen und fragmentieren ihn bislang weder Autobahnen noch Bahnstrecken, Stromtrassen oder sonstige menschliche Bauwerke. Doch genau das soll sich nun ändern.

Warum ist er aktuell bedroht?

Im Zuge des Energiegipfels hat das Bundesland Hessen 2011 beschlossen, zwei Prozent seiner Landfläche zur Verfügung zu stellen, um darauf Windkraftanlagen zu errichten. Maßgeblich betroffen ist ausgerechnet der Reinhardswald: In ihm wurden später sieben Teilflächen von zusammen 20 Millionen Quadratmetern – das entspricht zehn Prozent seiner Gesamtfläche – als sogenannte Windvorrangflächen ausgewiesen. Dies bedeutet zwar nicht, dass diese komplett gerodet werden, jedoch, dass innerhalb dieser Gebiete so viele Windkraftwerke wie möglich zu bauen sind. Dabei grenzen einige von ihnen unmittelbar an FFH-, Naturwald- und Wildschutzgebiete oder liegen in Trinkwasserschutzgebieten und Erholungswaldflächen.

Die Folge der Bebauung wäre, dass kilometerlange Großbaustellen mitten im Wald mit allen dazu baulich erforderlichen Rodungen, Bodenbewegungen, teilweise metertiefen Gründungen der Fundamente und Flächenversiegelungen entstünden. Insgesamt könnten 60 oder sogar mehr Großwindanlagen überwiegend auf den Höhenlagen im Reinhardswald entstehen. Bei den 18 ersten Anlagen auf zwei Flächen, die sich aktuell in der letzten Phase des Genehmigungsverfahrens befinden, handelt es sich um Turbinen der neuesten Generation, Typ Vestas V150, 5,6 Megawatt mit 244 Metern Gesamthöhe und Rotoren mit einem Durchmesser von 150 Metern.

Damit sind die heutigen Rotordurchmesser beinah so groß wie der Kölner Dom und beanspruchen einen Luftraum von knapp 18.000 Quadratmetern – pro Anlage wohlgemerkt. Im Verbund bilden allein diese ersten 18 Windanlagen eine gigantische Luftraumbarriere von beinah zehn Kilometern Länge auf den Höhenlagen. Um sie zu erschließen, sind mehr als 14 Kilometer Straßenbau nötig, davon mehr als sechs Kilometer als völlige neue Trasse auf der Kammlinie, wo bislang noch nicht einmal Forstwege existierten. Auch auf der übrigen, mehr als sieben Kilometer langen Zufahrtsstrecke müssen Forstwege erweitert, der Waldboden tiefgründig ausgekoffert und anschließend mehrschichtig schwerlastverkehrsfähig aufgebaut werden. Hinzu kommen noch mehr als zwölf Meter breite Kurvenradien sowie Überhol- und Ablagebuchten. Die Zufahrtsstraßen durch den Wald sind so zu errichten, dass Schwerlasttransporter sie über den gesamten beantragten Nutzungsraum von 30 Jahren befahren können. Schließlich sind allein für die ersten 18 Anlagen zwei Jahre Bauzeit im Wald veranschlagt. Der weithin bekannte und berühmte Reinhardswald würde zu einem Zentrum der Windkraftanlagen in Deutschland werden.

Was würden die geplanten baulichen Eingriffe für den Wald, die Natur und die Menschen bedeuten?

Wir würden nicht weniger verlieren als eines unserer letzten großräumigen, störungsarmen, zusammenhängenden, bislang baulich nicht vorgeschädigten Ökosysteme. Einen Naturraum höchster Wertstufe ohne technische Überprägungen, der Tieren Ruhe und Menschen Erholung bietet. Die hohe Zahl vorgesehener Windkraftanlagen und kilometerlange, für Schwerlasttransporte ausgebaute Zufahrtsstraßen führen dazu, dass bestehende Habitate dauerhaft zerschnitten und zersiedelt werden. Im durch frühere Fehlbewirtschaftung schon verletzten Wald müssten Tausende gesunde Bäume – darunter auch hundertjährige Buchen – für Straßenbau und Bauplätze gerodet werden. Das Kronendach erhält zusätzliche Lücken. In der mehrjährigen Bauphase wird der Wald mit all seinen oft störungsempfindlichen Waldbewohnern auf großer Fläche erheblich beeinträchtigt. So werden zehntausende Last- und tausende Schwerlasttransporter kilometertief in den Wald vordringen – letztere ausschließlich nachts. Damit verbunden sind Tag und Nacht Lärmemissionen und Lichtverschmutzung.

Mit jedem Maschinenhaus einer Windkraftanlage kommen etwa 5.500 Liter bodengefährdende und wassergefährdende Stoffe in den Wald, die überwiegend der Gefahrenklasse Eins zuzuordnen sind. Trotz installierter Auffangvorrichtungen können Flüssigkeiten austreten und den Boden verseuchen. Da einige Betriebsstoffe regelmäßig auszutauschen sind, könnten Unfälle auch hierbei den Waldboden kontaminieren. Dabei ist Trinkwasser unser höchstes Schutzgut: 14 der aktuell beantragten 18 Anlagen befinden sich in einem Trinkwasserschutzgebiet, Zone III, die Zuwegungen für tausende Fahrzeugbewegungen führen ebenfalls über viele Kilometer durch Trinkwasserschutzgebiet, teilweise auf klüftigen, instabilen, Untergründen. Die seitens einer Kommune beauftragten hydrogeologischen Gutachten raten aufgrund diverser Unwägbarkeiten des Untergrundes davon ab, diese zu bebauen. Betriebsstörungen oder Blitzschlag können dazu führen, dass Windanlagen trotz Blitzableitern Feuer fangen.

Jede Vestas-Anlage des für den Reinhardswald vorgesehenen Typs enthält etwa 1.500 Liter brennbare Öle und Fette. Da die Anlagen kilometertief im Wald stehen und die Wälder im Sommer insbesondere im Umfeld der Windkraftanlagen-Standorte mit Trockenheit zu kämpfen haben, könnte es trotz installierter Brandschutzsysteme zu einer Katastrophe kommen.

Zudem werden im laufenden Betrieb der Windkraftanlagen viele Millionen Quadratmeter Waldfläche über mehrere Kilometer erheblich beschallt und die Böden vibrieren mit bislang unbekannten Auswirkungen etwa auf Höhlentiere. Das betrifft auch Gebiete, die explizit als Erholungs- und Naturwaldfläche ausgezeichnet und damit als besonders schützenswert eingestuft sind, da sie Mensch und Tier als Orte des Rückzuges und der stillen Erholung dienen. Die Rotoren der Windkraftanlagen bilden über viele Kilometer auf den Kammlagen unüberwindliche Luftraumbarrieren in Höhen bis zu 700 Meter, die existenzbedrohend für zahlreiche geschützte Greifvögel- und Fledermausarten werden können. Die Bebauung und infrastrukturelle Erschließung des Reinhardswaldes beeinträchtigt, zerstört und zerschneidet die Lebensräume vieler weiterer Vögel, aber auch Käfer und andere Insekten und gefährdet den Bestand oder die Wiederansiedlung insbesondere von störungsempfindlichen Raubtieren mit großem Flächenbedarf wie Wölfen und Luchsen. Der Reinhardswald könnte seine Funktion als für die Artenvielfalt elementar wichtiger Trittstein, der große Habitate miteinander verbindet, verlieren.

Welches sind die Argumente der Befürworter der baulichen Eingriffe?

Befürworter der Windkraftanlagen im Reinhardswald argumentieren, dass es oberste Priorität habe, die Klimaziele zu erreichen, um das Überleben auf der Erde zu sichern. Aus diesem Grund sei es zwingend erforderlich, Windkraftanlagen auch in Wälder zu bauen – selbst in solche wie den Reinhardswald.

In den Planungen seien die ökologisch wertvollen Bereiche ausgespart worden, stattdessen seien hauptsächlich die "Kalamitätsflächen" betroffen – die Bereiche also, die der Mensch vor Jahrzehnten mit nicht heimischen Nadelbäumen in Monokulturen falsch bewirtschaftet hat und die durch Windbruch, Trockenheit und Borkenkäfer bereits stark geschädigt oder gar abgestorben sind. Daher müssten an den vorgesehenen Standorten "nur wenige" Bäume – die Projektierer nennen 5.000 Bäume für die 18 ersten Anlagen – gefällt werden. Die Eingriffe in der Fläche seien im Verhältnis zur Gesamtgröße des Reinhardswaldes sehr klein. Auch die Region müsse ihren Beitrag zur Energiewende leisten. Und schließlich seien die Windräder ein Wirtschaftsfaktor: Das durch die Pachteinnahmen erwirtschaftete Geld komme der Region zugute, um etwa Feuerwehren, Kindergärten und Freibäder sowie letztendlich auch den Waldumbau zu unterstützen. Als Verpächter der landeseigenen Flächen erzielt "HessenForst" hohe fünfstellige Pachteinnahmen pro Jahr und Anlage.

Was spricht gegen diese Argumente?

Bezüglich des regionalen Beitrages zur Energiewende ist festzustellen, dass der Landkreis Kassel diesen bereits erfüllt: Schon heute deckt er 93,8 Prozent seines Stromverbrauchs mit erneuerbaren Energien und ist damit bereits jetzt dort, wo das übrige Land Hessen und der Bund erst in 20 bis 30 Jahren sein wollen. Diese Tatsache ist zwar kein Grund, sich zurückzulehnen. Sie hilft jedoch dabei, angesichts der weiteren elementaren ökologischen Herausforderung – zu denen neben dem Klimawandel eben auch die Biodiversitätskrise gehört –  klug und besonnen zwischen den beiden Schutzzielen abzuwägen. "Energy first – forest second" ist die falsche Prämisse.

Professor Matthias Glaubrecht hat als renommierter Evolutionsbiologe jüngst im Interview mit Pro Wald eindringlich darauf aufmerksam gemacht, dass das weltweit grassierende Artensterben in erster Linie – weit vor allen weiteren Gründen – damit zusammenhängt, dass wir Menschen überall auf der Erde immer weiter in Naturräume eindringen und die dort beheimateten Arten dadurch aus ihren Habitaten verdrängen. Anders als die meisten Menschen glauben, spielt der Klimawandel für die Biodiversitätskrise bislang kaum eine Rolle. Daraus leitet sich die Vorstellung ab, dass Maßnahmen gegen den Klimawandel im Zweifelsfalle solchen Maßnahmen vorzuziehen sind, die die Biodiversität erhalten. Dieser Irrglaube ist in unseren Köpfen wohl vor allem dadurch entstanden, dass journalistische Beiträge, die sich mit der Klimakrise befassen, immer wieder mit dem berühmten "Eisbär auf schmelzender Eisscholle"-Foto illustriert sind. In diesem Fall ist der Zusammenhang zwischen Klima- und Biodiversitätskrise zwar völlig richtig, jedoch übersehen wir dabei, dass in der Arktis nur sehr wenige Arten leben, insbesondere über Wasser. Dadurch fokussieren wir falsch auf den Klimawandel. Die wahre Katastrophe sei jedoch das Artensterben weltweit und auch bei uns, so Glaubrecht, weil sich das Klima in einer erdgeschichtlich gesehen verhältnismäßig sehr kurzen Zeit wieder selbst regulieren wird, während einmal ausgestorbene Arten einfach weg sind und dies auch bleiben: Bis neue Arten entstehen, die die entstandenen Lücken in ihren Ökosystemen zu füllen vermögen, vergehen keine hundert oder zweihundert Jahre, sondern rund eine Millionen. Vor diesem Hintergrund ist es unverantwortlich und geradezu absurd, dass wir in Deutschlands letzte zumindest halbwegs naturbelassenen Habitate eindringen, um diese auch noch zu fragmentieren und zu bebauen. Und dabei auch noch so tun, als geschehe diese "nur zu ihrem eigenen Besten". Denn das ist schlicht falsch.

Wir zerstören dadurch nicht nur die Biodiversität weit über den Groß- und Greifvogelschutz hinaus, sondern beeinträchtigen viele weitere Funktionen des Waldes, etwa als Trinkwasserspeicher oder für das landschaftliche Mikroklima. Walderhalt und Waldentwicklung unter primär ökologischen statt ökonomischen Gesichtspunkten zu betrachten, ist sowohl für die Biodiversität als auch für den Klimaschutz überlebenswichtig. Eine solche Neubetrachtung ist unerlässlich, um unsere großräumigen Waldgebiete wie den Reinhardswald künftig in ihrer Gesamtheit zu schützen – und nicht mehr nur vereinzelte kleine Biotope.

Das Argument, dass "Kamalitätsflächen" bestens für Windkraftanlagen geeignet seien, da dort kaum Bäume gerodet werden müssten, ist, sofern dies nicht aus Unwissenheit geäußert wurde, zynisch - ansonsten ist es nur falsch. Ihm ist entgegenzuhalten, dass auch aktuell geschädigte Flächen sowohl rechtlich als auch ökologisch gesehen noch immer Wald sind. Seit mindestens 1.500 Jahren sind dort Wald- und Naturflächen, und daran ändert auch die Tatsache nichts, dass Förster dort vor ein paar Jahrzehnten aus dem in Frage zu stellendenden Zwang heraus, dass Wälder unbedingt profitable Wirtschaftsgüter zu sein haben, die falschen Bäume gepflanzt haben. Dass wir unseren Wäldern vor 40 bis 70 Jahren massiv Gewalt angetan haben, indem wir ihnen Fichtenmonokulturen aufgezwungen haben, darf heute nicht die Rechtfertigung dafür sein, dass wir ihnen jetzt noch einmal und sogar noch viel mehr Gewalt antun. Denn die Bebauung würde bedeuten, dass die Waldböden – die trotz absterbender Fichtenmonokulturen intakt sind – dauerhaft zerstört würden.

Die Windräder würden zudem verhindern, dass die geschädigten Flächen wieder zuwachsen und sich das Kronendach schließt. Denn das würde geschehen, wenn wir Menschen dies einfach nur zuließen. Es ist dabei noch nicht einmal erforderlich, unsere bzw. Försters "Lieblingsbäume" zu pflanzen und zu kultivieren – diese Vorstellung hat immer einen finanziellen Hintergrund – sondern die Natur würde das von ganz alleine regeln. Ein so genannter Sukzessionswald, das heißt ein ohne menschlichen Einfluss aufwachsender neuer Baumbestand, hätte den großen Vorteil, dass sich nur solche Bäume entwickelten, die optimal an den jeweiligen Standort angepasst sind. Sie wären nicht nur deutlich besser als Nadelbaum-Monokulturen gegen Extremwetterlagen gewappnet, sondern als jeder andere von Menschenhand kultivierter Baumbestand. Auf den geschädigten Waldflächen von heute könnte also der artenreiche, klimastabile Wald von morgen entstehen – sofern wir sie nicht als Bauland zweckentfremden.

Es ist längst gesellschaftlicher Konsens, dass Waldschutz notwendig ist. Laut einer aktuellen Befragung der Agentur für Erneuerbare Energien ist sich eine große Mehrheit der Bevölkerung einig darüber, dass neben der Energiewende auch der Waldschutz notwendig ist. Dass Windkraftanlagen in Wälder gebaut werden, befürwortet nur eine Ein-Drittel-Minderheit der Befragten. Die Energiewende zu unterstützen ist demnach nicht zwingend mit dem Ziel gleichzusetzen, Großwindanlagen in Wäldern platzieren zu wollen. Ebenso wenig ist der Vorbehalt gegen Windkraftanlagen in Wäldern nicht gleichzusetzen mit der grundsätzlichen Ablehnung erneuerbarer Energieträger, wie diverse Windkraft-Lobbyverbände dem "Aktionsbündnis Märchenland" gerne unterstellen. Wir müssen eine Energiewende schaffen, wir müssen weg von fossilen und atomaren Brennstoffen. Aber wir dürfen dabei nicht mit hunderten und – bundesweit gesehen – tausenden Großanlagen in das empfindliche Ökosystem Wald und damit in diese letzten wichtigen Naturräume vordringen, in denen es ansonsten aus gutem Grund sogar verboten ist auch nur sein Zelt aufzuschlagen. Dafür sind unsere Wälder viel zu wertvoll.

Im Jahr 2007 hat sich die damalige Bundesregierung mit ihrer "Nationalen Biodiversitätsstrategie" dazu verpflichtet, dass Deutschland bis 2020 insgesamt zwei Prozent seiner Landfläche als geschützte Wildnisgebiete ausweist, um dem damals schon unübersehbaren Artenrückgang entgegenzuwirken. Ernsthaft verfolgt hat sie dieses Ziel jedoch zu keinem Zeitpunkt: nur 0,6 Prozent sind es, nachdem die gesetzte Frist abgelaufen ist, bundesweit geworden – in Hessen sogar nur 0,48 Prozent. Während Deutschland und speziell auch Hessen beim Artenschutz also weit hinter den proklamierten Zielen hinterherhinken – so weit, dass die EU-Kommission Deutschland deshalb jüngst vor dem Europäischen Gerichtshof verklagt hat – hat Hessen im Jahr 2011 beschlossen, ebenfalls zwei Prozent seiner Landesfläche dem Ausbau der Windkraftanlagen zu widmen. Diese Vorgabe setzt sie nun deutlich konsequenter um.

Das Brisante daran: 80 Prozent der vorgesehenen Windvorrangflächen – das sind rund 300 Millionen Quadratmeter – befinden sich in Wäldern. Und damit ausgerechnet in den Gebieten, die Deutschland angeblich schützen will. Dieser Zielkonflikt offenbart sich im Reinhardswald in besonders drastischer Weise. Für Wildnisgebiete kommen nur Regionen mit ausreichend großer Fläche in Frage – wie eben im Reinhardswald. Würde das Land Hessen den gesamten Reinhardswald unter Schutz stellen, hätte es allein dadurch bereits fast die Hälfte seiner sich selbst auferlegten Wildgebietsflächen erreicht. Dass nun die Waldflächen jedoch stattdessen verstärkt bebaut statt verstärkt geschützt werden, lässt nur die Schlussfolgerung zu, dass die ökologischen Aspekte immer dann in den Hintergrund treten müssen, wenn eine alternative kommerzielle Nutzung der Wälder möglich ist, die hohe Renditen verspricht. Mit Wildnisflächen lässt sich nun einmal kein Geld verdienen, da diese nicht bewirtschaftet werden dürfen: ohne "Holzernte" keine Erträge. Nachdem das Geschäftsmodell Fichtenmonokultur grandios gescheitert ist, gilt das Augenmerk der öffentlichen Hand nun also verstärkt den lukrativen Pachtverträgen mit Windenergieanbietern (wobei am Rande bemerkt absurderweise auch heute noch Nadelholz-Monokulturen gepflanzt werden – nun allerdings mit den nicht minder problematischen Douglasien statt Fichten). Gewinnbringende Nutzung ist auf den hessischen Staatswaldflächen also noch immer das oberste Ziel. Der Naturschutz muss zurücktreten.

Was die monetären Aspekte durch Windkraft für die Region betrifft, so steht dem gegenüber, dass die Menschen in der strukturschwachen, dünnbesiedelten Region ihre letzte Ressource verlieren würden: die besondere Landschaft. Damit würden auch die Zukunftsperspektiven scheitern, dass die Orte mit dem sich gerade entwickelnden "sanften Inlandstourismus" wiederbelebt werden können, wie dies die Bundesregierung in eben jener "Nationalen Strategie zur Biologischen Vielfalt" festgelegt hat: "Natur und Landschaft in ihrer Vielfalt und Schönheit ermöglichen Sport, Erholung, Naturerfahrung und -erlebnis und prägen die regionale Identität. Tourismus, Sport und Erholung beeinträchtigen Natur und Landschaft nicht wesentlich. Sie setzen sich gemeinsam mit dem Naturschutz für die Erhaltung der Kultur- und Naturlandschaften ein", heißt es darin. Die beste Wertschöpfung für die Region ist der Erhalt ihrer Landschaft.

Vor diesem Hintergrund ist unverständlich, dass unverzichtbare Naturräume wie der Reinhardswald nicht nur mit besonderer Priorität, sondern auch noch in besonders hohem Ausmaß zur Bebauung mit Windkraftanlagen vorgesehen sind. Wie groß dieses Ausmaß ist, zeigt sich etwa darin, dass im benachbarten niedersächsischen Landkreis Northeim insgesamten 1.600 Hektar zur Bebauung mit Windrädern vorgesehen sind – davon kein einziger im Wald, der Naturpark Solling-Vogler wurde als Ganzes komplett ausgespart. Ausgerechnet im Reinhardswald, dessen Fläche lediglich ein Sechstel beträgt, sind es 2.000 Hektar (20 Millionen Quadratmeter). Es handelt sich augenscheinlich um eine exzessiven Inanspruchnahme und "Übernutzung" ausgerechnet dieser für die Natur und den Menschen herausragend wichtigen Landschaft.

Paragraf 1 des Bundesnaturschutzgesetzes klingt so, als sei er speziell für den Reinhardswald formuliert worden: "Zur dauerhaften Sicherung der Vielfalt, Eigenart und Schönheit sowie des Erholungswertes von Natur und Landschaft sind insbesondere Naturlandschaften und historisch gewachsene Kulturlandschaften, auch mit ihren Kultur-, Bau- und Bodendenkmälern, vor Verunstaltung, Zersiedelung und sonstigen Beeinträchtigungen zu bewahren", heißt es darin. Nichts rechtfertigt die weitere Beschädigung, Inanspruchnahme, Bebauung und Zerschneidung des Reinhardswaldes – weder mit messeturmhohen Großwindanlagen noch mit sonst etwas. Dafür ist er zu wertvoll für die Natur und letztlich auch für uns Menschen, die – was wir gerne vergessen – ein Teil davon sind. Der Raubbau am Wald ist nur ein kleines Zeichen für das Ausmaß der geringen Wertschätzung aber auch der inzwischen weit verbreiteten Unkenntnis über Wald, allen damit verbundenen systemischen Vernetzungen und wie sehr wir von guter Luft, sauberem Wasser und vor allem vom Artenreichtum abhängig sind.

Welche möglichen Alternativen gibt es?

Zunächst müssen wir alles dafür tun, um unseren Energiebedarf samt Emissionen zu senken. Es kann nicht sein, dass wir weiterhin unbekümmert streamen, fliegen, reisen, konsumieren, verbrauchen, Auto fahren, produzieren und verschwenden als gäbe es kein Morgen – während es gleichzeitig angeblich unverzichtbar sei, unsere Wälder zu bebauen, um die Klimaziele zu erreichen. Unsere Bestandsgebäude sanieren wir allenfalls schleppend energetisch, nur einen Bruchteil unserer Dachflächen nutzen wir bislang für Photovoltaik und Solarthermie, und wir sind noch nicht einmal bereit, bei unseren gerade nicht benötigten Elektro-Geräten den Stecker zu ziehen, sondern lassen sie lieber im Stand-by-Modus weiterlaufen – und dafür wollen wir nun die ohnehin geschundenen Wälder beanspruchen?

Energiewende und Klimaschutz werden nicht gelingen, wenn es darum geht, Unmengen konventioneller Energie einfach durch die gleiche Menge oder sogar, gemäß dem marktwirtschaftlichen Wachstumsdogma, immer noch mehr so genannte "grüne" Energie zu ersetzen. Denn diese beansprucht in erheblichem Maß begrenzt verfügbare Ressourcen – insbesondere Flächen. Energiewende und Klimaschutz bedeuten, dass wir unseren Lebenswandel hinterfragen und Energien einsparen. Ein Großteil der Menschen, die jenseits wirtschaftlicher und finanzieller Eigeninteressen Windkraftanlagen im Wald befürworten, sind ebenso um unsere Natur und Umwelt besorgt wie ein Großteil derjenigen, die Windkraftanlagen im Wald ablehnen. Das Missverständnis, dass Klimaschutz wichtiger sei als Artenschutz oder dass Maßnahmen zum Klimaschutz gleichzeitig immer auch dem Artenschutz zugutekämen, lässt sich durch Wissenstransfer ausräumen. Denn diese Tatsachen sind den meisten Menschen heute schlicht nicht bewusst.

Sich hingegen mit Menschen zu verständigen, die sich aus politischen oder kommerziellem Eigeninteresse für Windkraftanlagen in Wäldern einsetzen, ist ungleich schwieriger, da diese oftmals nicht einmal bereit sind, die auf der Hand liegenden Zielkonflikte sowie die konkreten Fragestellungen vor Ort überhaupt wahrzunehmen und anzuerkennen. So hat die hessischen Landesregierung 2016 rund 20.000 Einwendungen gegen die Flächenplanungen im Reinhardswald ebenso einfach vom Tisch gewischt wie zwei Jahre später eine gemeinsame Resolution von acht Anliegerkommunen zum Schutz des Reinhardswaldes. Die Bürgermeister dieser Gemeinden wurden nicht einmal angehört. Auch dass sich die Waldsituation seitdem dramatisch verschlechtert hat, müsste zu einer neuen Diskussion darüber führen, ob und in wieweit wir weiter in unsere Wälder eingreifen und sie in Anspruch nehmen dürfen. Die richtigen Stadtorte für Windkraftwerke sind grundlegende Voraussetzungen dafür, dass die Energiewende gelingt. Nicht nachvollziehbare Entscheidungen wie diese gegen den Reinhardswald, die sich gegen Menschen und Natur richten, haben das Potenzial, die Energiewende als Ganzes zu gefährden.

Fazit: Wir Menschen verdrängen ungehemmt Flora und Fauna aus ihren Habitaten, um uns dort selbst breit zu machen und um unsere Bedürfnisse – in diesem Fall unseren Energiehunger – zu befriedigen. Dabei wäre Rückzug statt Ausbreitung das Gebot der Stunde, sowie Reduktion der Energie statt allein der Umstieg auf andere Energieträger. Wem diese Tatsache bewusst wird und wem es wirklich zuerst um Ökologie geht, der wird hinterfragen, ob es tatsächlich notwendig ist, dass Windkraftanlagen ausgerechnet in Wäldern errichtet werden, wo sie genau das beschädigen oder gar zerstören, was sie schützen sollen.

Wie ist der Stand der Planungen?

Derzeit planen drei verschiedene Projektierer 34 Windanlagen auf vier der sieben Windvorrangflächen im Reinhardswald. Diese vier Windvorrangflächen umfassen zusammen etwa 1.200 Hektar, was zwölf Millionen Quadratmetern entspricht. 18 Windanlagen im Reinhardswald auf zwei Flächen befinden sich aktuell beim Regierungspräsidium Kassel in der Genehmigungsprüfung, zwei weitere Windanlagen haben die Antragsteller nach einem Einspruch der Bundeswehr zunächst zurückgenommen – derselbe Projektierer will sie aber an einem andern, noch unbekannten Standort errichten. In einem separaten Verfahren wurden für diese ersten 18 Anlagen Zuwegungen mit mehr als 14 Kilometern Länge beantragt. Wie lange die Prüfung dauern wird, lässt sich nicht vorhersagen, die Projektierer rechnen im Laufe dieses Sommers 2021 mit den Genehmigungen für jede einzelne Anlage. Das Aktionsbündnis Märchenland geht von einem weitaus größeren Zeitraum aus, den es braucht, die während der Öffentlichkeitsbeteiligung eingegangenen Stellungnahmen und vorgelegten Inhalte zu prüfen und auszuwerten. Außer den differenzierten, mehr als tausend Seiten umfassenden Eingaben aus dem Aktionsbündnis selbst zu den diversen, ebenfalls zu beachtenden Schutzzielen haben Kommunen, Vereine, Initiativen und Einzelpersonen laut Regierungspräsidium Kassel mehr als 600 weitere fachliche und persönliche Stellungnahmen eingereicht. Sollte es dennoch zu Genehmigungen kommen, wird es voraussichtlich zu Klagen kommen.

Vier weitere Windanlagen im Reinhardswald befinden sich ebenfalls im Genehmigungsverfahren, allerdings in einem Stadium, in dem die Öffentlichkeit noch nicht beteiligt wird. Auf einer vierten Fläche ruhen derzeit die Planungen für zehn Turbinen, weil diese zu nahe am Drehfunkfeuer des Flughafens Kassel-Calden vorgesehen sind – die Politik diskutiert darüber, die Mindestabstände zu reduzieren. Drei weitere, insgesamt 800 Hektar große Flächen sind noch nicht ausgelobt worden – dies soll laut HessenForst nach und nach geschehen.

Diese Bürgerinitiativen, Umweltverbände, Aktionsbündnisse engagieren sich für den Schutz des Reinhardswaldes:

Das Aktionsbündnis Märchenland / Rettet den Reinhardswald ist ein langjähriger Zusammenschluss verschiedener regionaler Bürgerinitiativen, Vereine und engagierter Einzelpersonen Kontakt: info(at)rettet-den-reinhardswald.de . Außerdem unterstützt die Bundesbürgerinitiative Waldschutz (BBIWS), die Umweltschutzorganisation Rettet den Regenwald e.V., die Schutzgemeinschaft Deutscher Wald sowie weitere regionale Bürgerinitiativen, Vereine, Gruppierungen und die weit überwiegende Zahl der Anliegerkommunen mit ihren Parlamenten und Bürgermeistern den Erhalt des Reinhardswaldes. Inzwischen unterstützen bundeweit viele weitere Waldfreund:innen sowie renommierte Wissenschaftler:innen, Prominente wie etwa Peter Wohlleben, Hannes Jaenicke sowie Künster:innen wie Saxana Sötschel und Helge Hommes,  die für den Erhalt des Reinhardswaldes malen.

Wie lassen sich die Eingriffe in den Reinhardswald noch verhindern?

Solange die Bagger noch nicht rollen, ist noch nichts verloren. Es gilt die Zeit weiter zu nutzen, um mehr Wissen über die zunehmend unverzichtbaren Ökosystemleistungen des Waldes allgemein und Aufmerksamkeit für den Reinhardswald im Speziellen zu erreichen. Naturzerstörung ist Naturzerstörung, und dem Wald ist es egal, ob diese für Autobahnen, Gewerbegebiete, Freizeitparks oder eben für Windräder geschieht. Unterstützer:innen können helfen, den Wald zu retten, indem sie in ihrem Freundeskreis, aber auch in den sozialen Netzwerken Informationen teilen. Das Aktionsbündnis Märchenland informiert über einen Blog auf seiner Webseite, seine Facebookseite oder auch per Rundbrief über Neuigkeiten. Wer will, kann Medien, Prominente, Umweltverbände, politische Verantwortliche, Fachleute und Organisationen in Sachen Wald- und Artenschutz anschreiben, seinen Protest gegen diese massiven Bebauungsvorhaben formulieren oder um Unterstützung für den Reinhardswald bitten.

Öffentlichen Kundgebungen sind bislang noch keine geplant, die Demonstration für den Reinhardswald erfolgt derzeit mit Tastatur und Papier. Spenden helfen dem Aktionsbündnis, Material zu erstellen, Anzeigen zu schalten, Mediengestalter und anwaltliche Beratung zu bezahlen, Gutachten in Auftrag zu geben, Veranstaltungen zu organisieren und wenn nötig Klagen zu unterstützen, sollte es zu Genehmigungen kommen. Die Mitglieder im Aktionsbündnis Märchenwald selbst engagieren sich seit mehr als neun Jahren ausschließlich ehrenamtlich für den Reinhardswald. Das Bündnis ist dabei seit jeher unabhängig, überparteilich und sieht sich ausschließlich dem Natur- und Landschaftsschutz verpflichtet. Wer mitmachen will, ist herzlich willkommen. Gesucht werden insbesondere Menschen, die genehmigungsrelevantes Fachwissen einbringen oder Fachleute vermitteln können. Noch läuft die Petition von Rettet den Regenwald e.V. für den Reinhardswald: Knapp 45.000 Menschen haben bereits unterschrieben.


Hinweis: Um diesen Waldsteckbrief zu erstellen, hat sich Pro Wald fachlich vom Aktionsbündnis Märchenland beraten lassen, herzlichen Dank für die kompetente Hilfe! Wertungen und Schlussfolgerungen stehen unter der alleinigen redaktionellen Verantwortung von Pro Wald.